Anforderung der Vernunft hinsichtlich des kirchlichen Lehramtes
Die prüfende Vernunft begrüßt das Vorrecht des Oberhauptes der Kirche
Die Vernunft findet sich um so mehr geneigt, diese Prärogative (=Vorrecht) des Oberhauptes der Kirche als göttlich verliehenes Lehrrecht anzusehen und anzuerkennen, weil es nicht nur von all den Inkonvenienzen (=Unbequemlichkeiten) und Schwierigkeiten der ihr entgegen gesetzten Behauptung fern ist: sondern überdies in einem so harmonischen Charakter mit der Kirche und ihrer Stellung in der Welt steht.
Christus stiftete nämlich, wie wir bereits bemerkt, die Kirche als sichtbares Reich der Wahrheit – als seinen mystischen Leib, und als streitende Kirche im Kampf gegen die Gewalten der Finsternisse und des Irrtums. Wie passend erscheint es der prüfenden Vernunft, daß Er der allmächtige und höchst weise Stifter dieser seiner Kirche auch ein dieser Natur und Stellung derselben Kirche durchweg genügendes sichtbares, in Dingen des Glaubens unfehlbares Haupt gegeben.
Die prüfende Vernunft begrüßt mit Beifall die Tatsache, daß Christus zur Erreichung seines Zieles bei Gründung einer unerschütterlichen Kirche aller Zeiten und aller Völker auch das einfachste und dennoch durchweg genügende Mittel gewählt; nämlich die Sicherstellung des Glaubens aller, durch Einen.
Die prüfende Vernunft bemerkt aber auch, daß die Scheu ihrer Gegner, diese Tatsache anzuerkennen, vorzüglich darin liege, daß es ihnen gleichsam zu viel für einen dünkt, ein so hohes, ja göttliches Lehransehen zu besitzen, und als ein an und für sich, in rationeller Beziehung, fehlbarer Mensch dennoch auf Unfehlbarkeit in der noch höheren Sphäre menschlicher Erkenntnis durch den Glauben, Anspruch zu machen.
Allein, die Sache näher betrachtet, findet die prüfende Vernunft darin gar nichts Widersprechendes oder Beispielloses. Denn wie wir bereits oben bemerkten, so waren die zwölf Apostel durch Christi Beistand, jeder im Einzelnen auch persönlich unfehlbar. Warum sollte die Vernunft Anstand nehmen, mit Beifall anzuerkennen, daß Christus ein Vorrecht, das Er den Zwölfen zur Gründung der Kirche auf außerordentliche Weise zugewendet, auch den Nachfolgern des Einen, den Er zum Haupt derselben bestellt, zur Erhaltung und Leitung der Kirche bis an das Ende der Zeiten, ordnungsmäßig von Amtswegen mitteile.
Waren durch seinen Geist, wie Petrus bezeugt, die Propheten nicht im einzelnen persönliche Seher in die Zukunft? (1. Petr. 1) Ist dieser Blick in die Zukunft nicht noch ein größeres Wunder göttlicher Wissenschaft, einem einzelnen Menschen zugewendet?
Gefiel es nicht gleichfalls Gott, einzelne durch die Gabe die Wunder zu Werkzeugen seiner Allmacht zu machen? Man bedenke, was uns darüber die hl. Schrift und das Leben der Heiligen berichtet. Sind die Wunder der Allmacht minder als die seiner Wissenschaft?
Endlich, wie wir dies auch schon oben bemerkten: Warum sollte die nämliche Vorsehung, welche die Unfehlbarkeit des Lehransehens den vielen, kollektiv genommen, zugewendet – wie unsere Gegner dies ausschließlich annehmen, dieses selbe unfehlbare Lehransehen nicht auch einem mitteilen können? Menschliche Weise zu reden, erfordert ja diese zu wahrende Übereinstimmung und Unfehlbarkeit der vielen, kollektiv genommen, eine noch größere Einwirkung der göttlichen Vorsorge, als bei der Wahrung der Unfehlbarkeit eines Einzelnen. Das bekannte Sprichwort sagt: „Quot capita, tot sensa“, „So viele Köpfe, so viele Sinne“, erinnert daran.
Die Vernunft gewahrt überhaupt bei der ganzen Einrichtung und Leitung der Natur, das Gesetz der sogenannten „parsimonia divina“, d. h. jene weise Ordnung der göttlichen Macht, die durch einfache, großartige Kräfte in der Natur ihr Ziel siegreich erreicht, und dabei das Überflüssige zurückweist. Daher das philosophische und theologische Axiom: „Dei sapientia non operatur superflua“, „Gottes Weisheit wirkt nichts Überflüssiges“. Und weiter: „Entia non sunt multiplicanda“, was so viel sagen will als: „Man vermehre nicht nutzlos Ursachen, wo eine genügt.“
Nun aber, wie jeder der prüft, leicht erkennt; die Unfehlbarkeit des Oberhauptes der Kirche genügt zur Sicherstellung des Glaubens und der Einheit der Kirche, also wozu noch die Ermittlung des Urteils der kollektiven Vielen als „ratio sine qua non“ zur Auffindung der Wahrheit des Glaubens? – Und führt diese kollektive Unfehlbarkeit der Vielen im konkreten Fall der Entscheidung, nicht von selbst die Unfehlbarkeit der Einzelnen mit sich? (*)
(*) Merkwürdig ist dabei der Umstand, daß Protestanten besonders, es so wenig zu fühlen scheinen, daß ihr Schrecken vor einer persönlichen Unfehlbarkeit um so lächerlicher sei, da sie ja eine ähnliche Glaubens-Prärogative für jeden der Ihrigen in Anspruch nehmen, und konsequent nehmen müssen, die wir Katholiken nur in dem einen Oberhaupt der Kirche erkennen.
Der Protestantismus räumt ja jedem das Recht ein, sich den Glauben aus der hl. Schrift selbst herauszulesen. Nun aber, da im Protestantismus zugleich der Grundkanon gilt: „Der Glaube allein macht selig“, was auch protestantisch nur von einem wirklich göttlichen und unfehlbaren Glauben gelten kann: so gesteht der Protestantismus in notwendiger Konsequenz bei Auslegung der Schrift auch jedem für sich eine gewisse Unfehlbarkeit zu. Wenn nicht, so musste der Protestantismus zugeben, daß sein Grundsatz: „Der Glaube macht selig“ oder um echt protestantisch zu reden: „Der Glaube allein macht selig“, auch von einem falschen Glauben gelten könne! – Das wäre doch selbst für Luther zu starker Tabak. Nun denn, warum findet man es protestantischer Seite so anstößig, daß Katholiken im Oberhaupt der Kirche ein Vorrecht anerkennen, das Protestanten in ähnlicher Weise, wenn sie konsequent und logisch denken, bei jedem Glied ihrer Kirche anzuerkennen, keinen Anstand nehmen? –
aus: F. X. Weninger SJ, Die Unfehlbarkeit des Papstes als Lehrer der Kirche, 1869, S. 62 – S. 65
siehe auch die Beiträge:
Die Vernunft erwartet Unfehlbarkeit der Kirche
Hat Christus ein unfehlbares Lehramt eingesetzt
Die reine Lehre ist in dem Evangelium enthalten
Christus verhieß die Unfehlbarkeit im Lehramt
Das Konzil als alleiniges Glaubenstribunal?