1. Brief des hl. Johannes Kap. 2 Vers 7-14
Der Lebenswandel nach dem Vorbild Christi
Der Verfasser kann es nicht genug betonen, dass er mit dem zuletzt (in Vers 6) Gesagten kein neues Gebot vorschreibt. Hat man ihnen doch vom Anfang ihrer Bekehrung zum Christentum an diese Lehre eingeschärft, dass der „Wandel im Licht“, d. h. der Lebenswandel nach dem Vorbild und Beispiel Christi, das Wesen des Christentums ausmacht. Denn Christus ist nicht gekommen, um uns neue tiefe und geistreiche Gedanken oder „Erkenntnisse“, sondern neues Leben zu bringen. Diese einfache, vom heiligen Johannes so betonte Wahrheit wird zu allen Zeiten gerne vergessen. Auch der Prediger kann sie sich nicht genug zu Herzen nehmen.
Offenbar hat übrigens der Verfasser schon das, was er gleich über die Bruderliebe sagen will, im Auge und ist dadurch sein Spiel zwischen „neuem und altem Gebot“ verursacht (vgl. Joh. 13, 34). Freilich gilt auch schon von dem allgemeineren Gebot des Wandels im Licht, dass es „andrerseits wieder ein neues Gebot“ ist.
Zwar nicht neu, wie gesagt, für die schon im Christentum Stehenden, wohl aber für die ganze Menschheit und deren Heilsgeschichte. „Das erweist sich als wahr an ihm und an euch.“ An ihm, d. h. an Christus, insofern, als durch ihn erst die ganze volle Offenbarung Gottes als des Lichtes in die Welt gekommen ist, weshalb er auch mit Recht sich selber als das „Licht der Welt“ bezeichnet (Joh. 8, 12). Aber auch an den Adressaten des Briefes, d. h. an den Mitgliedern der jungen christlichen Kirche, erweist sich diese Behauptung als wahr: „Denn die Finsternis ist am Verschwinden und das wahrhaftige Licht leuchtet bereits.“
Schon hat sich doch eine bereits weithin über das ganze römische Reich verbreitete Gemeinschaft gebildet, in deren von der Art der Heiden so grundverschiedenen Lebensführung jenes Licht, das Christus ist, hell aufleuchtet, so dass der Apostel die Behauptung wagen kann: „Die Finsternis ist am Verschwinden.“ Es sind ja wirklich ganz neue Lichtgemeinden, die da mitten in der heidnischen Welt im Stillen herangewachsen sind und über deren bisher nie gesehenen Glanz die Heiden selber staunen müssen.
Es ist gewiss wahr, dass auch in unseren Zeiten dieses Licht da und dort hell hervorleuchtet. Aber der scharfe Unterschied zwischen den „Lichtgemeinden“ der Christenheit und der übrigen finsteren Welt ist doch sehr verwischt und mehr in einen allgemeinen Dämmerungszustand übergegangen, wo sich die Grenzlinien nimmer erkennen lassen.
Freilich, schon zu Zeiten des heiligen Johannes war nicht alles Licht: „Wer behauptet, im Licht zu sein, und seinen Bruder hasst, der ist bis jetzt noch in der Finsternis.“ Hat doch Christus, besonders in der Abschiedsrede, immer und immer wieder betont, dass die Summe seiner Gebote in der Bruderliebe besteht.
Denn das ist das gänzlich Neue, was er in die Menschheit gebracht hat, dass die nur mehr oder minder durch Blut und gemeinsame natürliche Abstammung verbundenen Menschen durch die in der heiligmachenden Gnade ihnen geschenkte Teilnahme am inneren Wesen Christi zu Kindern Gottes und dadurch untereinander zu zu Brüdern und Schwestern geworden sind, die sich infolge dessen lieben müssen mit der Liebe, mit der Christus, ihr „erstgeborener Bruder“ alle miteinander und jeden einzelnen davon liebt.
Dadurch unterscheidet sich die von Christus uns gebrachte Ethik von jeder anderen Ethik, die wesentlich auf das Recht aufgebaut ist und von Gesichtspunkten des Rechtes geleitet wird, weil sie die Forderungen des Rechtes zwar selbstverständlich als solche nicht aufgehoben, aber ebenfalls in den Bereich der Liebe hinein gezogen und so gleichsam in solche der Liebe verwandelt hat, die weit über die des bloßen Rechtes hinaus gehen.
Denn die Liebe begnügt sich nicht mit der rechtlich allein geforderten sachlichen Leistung an den anderen, sondern umfasst aus innerem Drang auch dessen ganze Person mit ihrem Wohlwollen, so dass auch die sachliche Leistung zu einer persönlichen wird. Deshalb ist es klar, dass nur der, der seinen Bruder liebt, in Wirklichkeit zu der christlichen Gemeinschaft des Lichtes gehören kann. „Wer aber seinen Bruder hasst, der ist bis jetzt noch in der Finsternis.“ „Bis jetzt noch“, auch wenn er schon seit Jahren äußerlich sich der Kirche angeschlossen hat.
Es ist bezeichnend für die Denkart des Liebesjüngers Christi, dass er als Gegensatz zum Lieben nur das Hassen kennt. Denn die meisten, die zwar nicht lieben, „hassen“ deshalb noch nicht gleich den anderen, sondern er ist ihnen eben mehr oder minder gleichgültig.
Aber Johannes erblickt in seiner furchtbaren sittlichen Konsequenz immer nur die Extreme: Wer nicht liebt, der hasst. So unrecht hat er darin nicht. Denn die Gleichgültigkeit gegenüber dem, den man lieben sollte, ist nur dem Grad nach vom Hass verschieden und eine mildere Form desselben. „Anders ist es mit dem, der seinen Bruder wirklich liebt, der ihm also innerlich von vorne herein jenes aufrichtige Wohlwollen entgegen trägt, das im Herzen dessen, der sich selbst von Christus geliebt weiß, ganz von selbst gegen jeden anderen, ebenfalls von Christus Geliebten erwachsen muss. Der „bleibt im Licht“.
Er wird nicht nur da und dort einmal vom Licht, das ja Christus selber ist, getroffen und erleuchtet, sondern sein ganzer Wandel steht unter dem Einfluss dieses Lichtes. „Und kein Anstoß ist in ihm“, heißt es wörtlich weiter. „Skandalon“, eigentlich „die Falle“ ist Alles, was einem anderen Anlass zum Fall werden kann, also das Ärgernis.
Weiterhin bedeutet es oft auch das anstößige, das, worüber man sich entrüstet oder ärgert, also den Fehler, den sittlichen Makel überhaupt. So möchte man es auch hier auffassen: „Es ist kein Makel an ihm.“
Aber die Fortsetzung des Gedankens in Vers 11 zeigt doch, dass von Ärgernis im eigentlichen Sinne die Rede ist. Verwunderlich ist dabei nur, dass Johannes schreibt: „kein Ärgernis ist in ihm.“ Das Ärgernis, d. h. das, was einen Menschen zu Fall zu bringen sucht, befindet sich doch außerhalb von ihm. Nein – will der heilige Johannes sagen – es liegt in ihm selber. Der folgende Vers erklärt das. „Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht, wohin er geht, weil die Finsternis seine Augen geblendet hat.“
Wer keine Liebe besitzt, dem fehlt von vorne herein das richtige Urteil über den Nebenmenschen und über die Verwicklungen, die das menschliche Zusammenleben nun einmal notwendig mit sich bringt. Deshalb kann er auch aus diesen Verwicklungen keinen Ausweg finden und macht sie nur noch schlimmer. Wer aber liebt, der übersieht zwar die Fehler seines Nächsten nicht. Aber im Licht der Liebe erkennt er auch das um das Böse herum liegende und dahinter versteckte Gute und lernt unterscheiden zwischen wirklicher, nackter Bosheit und von Hemmnissen bedrückter Schwachheit. Und so findet er immer wieder einen Weg. –
So also ist die kleine, aber bereits im Wachsen begriffene Welt des Lichtes beschaffen, die Christus gegründet hat, und zu der die Adressaten des Briefes gehören, die „Kindlein“, wie der Verfasser auf Grund seines eigenen hohen Alters und seiner apostolischen Autorität sie nennt. Ihr gegenüber aber steht, oder vielmehr: um diesen kleinen Kreis herum breitet sich aus der große Kreis der anderen Welt, „der Welt“ schlechthin, vor deren Berührung es gilt, sich zu hüten.
Das ist ein ernstes Anliegen, das dem greisen Apostel, dem letzten noch auf Erden weilenden unmittelbaren Zeugen Jesu Christi, schwer auf der Seele brennt. Bevor er es ausspricht, hebt er deshalb zweimal feierlich an mit „Ich schreibe euch“ bzw. „Ich habe euch geschrieben, Kindlein.“
Er will sie – und jeden Stand besonders – eindringlich daran erinnern, dass sie bereits Kostbares von Christus empfangen haben, das sie schon von der Welt getrennt hat, und das sie auch fernerhin von ihr trennen soll. „Ich schreibe euch, Kindlein“ – nur deshalb habe ich den Mut und fühle mich zugleich aber auch gedrängt, euch das zu schreiben, was ich über „die Welt“ zu sagen habe, „weil euch die Sünden erlassen sind um seines Namens willen“, weil ihr also durch die Verdienste Jesu zuteil geworden ist, bereits aus „der Welt“ ausgeschieden seid. „Ich schreibe euch, Väter, weil ihr den erkannt habt, der von Anfang an ist.“
Dem gereiften Alter, in dem das Feuer der Leidenschaft erloschen ist, liegt es ja mehr, nach dem Ewigen zu suchen, das allein dem Menschen Ruhe und Sicherheit verschaffen kann, über dessen Leben sich bereits sachte die Schatten des Todes senken. „Ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist“, Jesus Christus, das „ewige Wort“ (Joh. 1, 1).
Anders die Jugend. Sie fühlt in sich noch die ganze Glut der Leidenschaften, die ihr nicht die Ruhe lässt zu stiller Betrachtung, aber zugleich auch nach Kämpfen und Siegen drängt. „Ich schreibe euch, ihr Jünglinge, weil ihr den Bösen besiegt habt.“ Ihr habt bereits, bei eurem Eintritt in das Christentum, den größten Sieg erfochten, über den Bösen, den Teufel, dem „die Welt“ untertan ist. –
Noch immer spricht der Verfasser nicht aus, was ihm auf der Seele brennt. Noch mehr, noch eindringlicher muss er sie zuerst darauf vorbereiten: „Ich habe euch geschrieben“ – nicht das Johannes-Evangelium ist gemeint, woran viele Ausleger denken, sondern das, was er bisher schon in diesem selben Brief geschrieben hat. Ich habe euch das alles geschrieben, von Gott, „dem Licht“, vom Wandel im Licht, von der Notwendigkeit der Reinerhaltung von der Sünde.
Das alles habe ich geschrieben und konnte es nur deshalb schreiben, weil „ihr den Vater erkannt habt“. Weil euch ja bei der Aufnahme in die Kirche nicht nur die Sünden erlassen worden sind, sondern weil ihr dadurch in die innigste Lebensgemeinschaft mit dem Vater Christi getreten seid, der durch die Taufe auch euer Vater geworden ist (vgl. Joh. 17, 3).
Nochmals wiederholt er, was er den „Vätern“ eben schon gesagt hatte. Auch die „Jünglinge“ weist er zum zweiten Mal auf ihren Erfolg hin, und nicht nur auf ihren Erfolg, sondern auch auf den Grund desselben, der ihr weiteres Siegesbewusstsein gewaltig heben muss: Ihr seid stark! Eure Stärke hat den Bösen besiegt. Freilich verdankt ihr diese eure Kraft nur dem Wort Gottes, das in euch wohnt. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 480 – S. 483
Siehe das 2. Kap. des Briefes aus der Vulgata und den Kommentar dazu von Allioli: