1. Brief des hl. Johannes Kap. 2 Vers 1-6

Wir haben einen Fürsprecher beim Vater, Jesus Christus

„Meine Kindlein, dieses schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt.“ Freilich wird trotzdem Sünde vorkommen. Aber das können bei den echten Christen nur einzelne und vereinzelte Fälle sein. Das ist ausgedrückt durch den griechischen Aorist in dem Bedingungssatz: „Wenn einer gesündigt hat.“ Denn wer etwa gewohnheitsmäßig oder sozusagen grundsätzlich sündigen würde, weil er sich aus der Sünde überhaupt nichts macht, der wandelt natürlich nicht mehr im Licht. Das sind zwei sich ausschließende Gegensätze, da doch „im Licht wandeln“ wenigstens so viel heißt als Tag für Tag sich grundsätzlich und ehrlich bemühen, sein Leben nach der Wahrheit des Glaubens einzurichten, also die Sünde zu meiden. Wenn aber ein solcher trotzdem da oder dort aus menschlicher Schwachheit gesündigt hat, dann „haben wir einen Fürsprecher beim Vater, Jesus Christus, den Gerechten“. Eben weil er selber ganz gerecht und sündelos ist, deshalb ist er geeignet zu diesem Amt des Fürsprechers. Und er übt es dadurch aus, dass er stets von neuem den Vater auf die Sühne hinweist, die er durchs ein ganzes Erdenleben, vor allem aber durch seinen Opfertod am Kreuz geleistet hat. Deshalb kann man geradezu ihn persönlich „die Sühne“ nennen. Diese Sühne aber ist von so unendlichem Wert, dass sie ausreicht nicht nur für unsere Sünden, sondern für die ganze Welt.

Der heilige Johannes fühlt, während er dieses schreibt, offenbar dieselbe Schwierigkeit, die jedem Seelsorger sich darbietet und die ja in der Natur der Sache liegt, einerseits dem Sünder Mut zu machen und ein grenzenloses Vertrauen auf Christus in ihm zu erwecken, andrerseits aber auch Vorsorge zu treffen, dass dieses Vertrauen den Menschen nicht erlahmen lasse in seinem eigenen energischen Kampf gegen die Sünde. Darum fährt er fort, das, was er vorhin negativ über das Ziel des Christentums, die Sündelosigkeit, gesagt hat, nunmehr positiv auszudrücken und zu begründen. „Daran erkennen wir, dass wir ihn erkannt haben, wenn wir seine Gebote beobachten.“ Es mag sein, dass diese Formulierung des Gedankens „ihn erkannt zu haben“ sich ebenfalls heimlich gegen die Gnostiker richtet, die ihre höhere „Erkenntnis“ (Gnosis) für einen Freibrief von den Geboten hielten. Sicher ist das jedoch nicht. Denn es ist Aufgabe jedes Christen, Christus zu erkennen und sich ganz in ihn hinein zu leben.

Aber hierin zeigt sich wieder die ganze Art des auf die Tat drängenden Liebesjüngers: Ein bloß mystisches und beschauliches Erkennen Christi gibt es nicht. Denn wer ihn, den Heiligen, wirklich erkannt hat, in dem muss diese Erkenntnis sich ganz von selber in der Tat auswirken, das ist in der Beobachtung seiner Gebote. Mit derselben kompromisslosen Schroffheit wie vorhin (1, 6) gibt er deshalb sein urteil ab: „Wer behauptet: ‚Ich kenne ihn‘, und seine Gebote nicht beobachtet, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht.“ „Wer aber sein Wort beobachtet“ – nun wäre wieder als Fortsetzung des Gedankens zu erwarten: „in dem ist die Wahrheit“ oder“ist die Wahrheit zur vollen Auswirkung gekommen“.

Überraschender Weise aber ersetzt der Apostel das Wort „Wahrheit“ durch „Liebe“. Man kann wieder fragen, ob der Genetiv „Gottes“ als genetivus subiectivus oder obiectivus zu nehmen ist, also ob die Liebe, die Gott zu uns hat, gemeint ist, oder die Liebe des Menschen zu Gott. Erkennen ist ja für den heiligen Johannes, der hierin ganz im Geist der hebräischen Sprache denkt, nicht nur ein Akt des Verstandes. Sondern erkennen bedeutet zugleich so viel wie anerkennen, und zwar mit ganzer Seele. Dadurch wächst in der Sprache des Liebesjüngers die Erkenntnis von selber aus zur Liebe. Und diese Liebe zu Gott ist vollendet, wenn wir seine Gebote beobachten. Freilich ist die Liebe, mit der wir Gott lieben, eigentlich bewirkt von der Liebe Gottes zu uns.

Denn die von Gott uns geschenkte Liebe betätigt sich in uns als übernatürliche, das Leben unserer Seele schaffende und treibende Kraft. Deshalb kann man den Genetiv „Gottes“ ebenso gut als genetivus obiectivus auffassen. Auch hier wiederum läßt der Apostel wohl absichtlich beides in der Schwebe, um im Grunde beides zu sagen. Daran also, an der Erfüllung der Gebote, erkennen wir erst, „dass wir in ihm sind“. Denn diese innige Lebensverbindung mit Christus legt zugleich die Verpflichtung auf, auch ganz aus ihm heraus, ganz seinen Gedanken und Zielen und Wünschen entsprechend zu leben, d. h. „so zu wandeln, wie er gewandelt ist“.

Eigentlich hätte der heilige Johannes seiner bisherigen Ausdrucksweise und Auffassung entsprechend schreiben müssen: „Wer in ihm bleibt, der wandelt ganz von selber so wie er“, da ja diese Lebensverbindung mit ihm, ebenso wie „die Wahrheit“ oder „die Erkenntnis“, wenn sie wirklich vorhanden ist, ganz von selber in dieser Wirkung sich äußert. Aber das ist eben doch keine rein physische Wirkung. Denn auch die Lebensverbindung des Menschen mit Christus ist keine einfach physische wie die des Rebzweiges mit dem Weinstock (vgl. Joh. 15, 3).

Sondern die übernatürlichen Lebenshandlungen des Christen stellen die gemeinsame Wirkung von Gnade und sittlicher Anstrengung des Menschen dar, wobei diese beiden Ursachen ähnlich in eins zusammen gehen, wie Leib und Seele, obwohl an sich zwei wesensverschiedene Substanzen, zu einer einzigen substantia completa verbunden sind. Wie freilich diese letztere Verbundenheit ein natürliches Geheimnis ist und bleibt, so bildet erst recht das Zusammenwirken von Gnade und freiem Willen ein unerklärbares Mysterium, an dem sich die verschiedenen theologischen Schulen vergebens versucht haben. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 478 – S. 480