Apokalypse

Die zwei Zeugen. Kap. 11, Vers 11-14. Die Auferweckung der zwei Zeugen

Aber wie damals der Hass zu früh triumphierte und schon nach einigen Stunden „das ganze Volk, das diesem Schauspiel beiwohnte und Augenzeuge der Vorgänge war, an die Brust schlug und heim kehrte“ (Luk. 23, 48), so wird sich nach Ablauf der dreieinhalb Tage das Los aus tiefster Schmach zur höchsten Verherrlichung der ermordeten Zeugen wenden. Wie im Leben und Sterben, so gleichen sie auch in der wunderbaren Erweckung vom Tode ihrem göttlichen Meister. Johannes schaut das alles so real, dass ihm in echt prophetischer Perspektive die ferne Zukunft zum geschichtlichen Ereignis wird, von dem er in der Zeitform der Vergangenheit berichtet. Ähnlich wie Ezechiel Zeuge der Wiederbelebung der weithin zerstreuten Totengebeine wurde und in der Vision sah, wie Gott ihnen Geist einflößte, wie sie lebendig wurden und sich auf ihre Füße stellten (Ez. 37, 1-10), so wiederholt sich das nu vor den Augen des Sehers an den zwei Zeugen. Jäh verstummt unter den Bewohnern der Erde die laute Freude über das vermeintliche Ende der Propheten und ihrer lästigen Bußpredigten. Es gibt also doch noch eine Macht, die sogar stärker ist als der Tod und die den verfrühten Triumph des Tieres aus der Hölle in eine Niederlage verwandelt. Über diese Macht gespottet und sich am Sieg des Reiches der Finsternis gefreut zu haben, läßt die Menschen mit großer Furcht an die Folgen ihres Verhaltens denken. Viele von ihnen sind ja früher Glaubensgenossen der zwei Zeugen gewesen, haben aber keinen Bekennermut gehabt und hofften in der Abkehr von der verfemten Religion Jesu ihre Existenz zu sichern. Nun merken sie zu spät, dass ihre kluge Berechnung falsch war. Der rasche Übergang von ausgelassener Freude zu zitternder Angst erinnert an Weish. 5, 1ff.

Die Auferweckung von den Toten durch den „Lebensgeist von Gott“ folgt die Aufnahme der Zeugen in den Himmel. Um auch hierbei keinen Zweifel darüber zu lassen, dass sie nicht aus eigener Kraft bis zu diesem Grad Christus, den Urzeugen, ähnlich zu werden vermochten, sondern nur durch außerordentliche Wunderzeichen und Hulderweise Gottes, erschallt vom Himmel her eine mächtige Stimme und lädt die Auferweckten ein, dorthin empor zu steigen. Die Zeugen wissen, dass nur ihnen diese Einladung gilt. Eine Wolke hatte einst den zum Himmel fahrenden Erlöser den Blicken der Jünger entzogen (Apg. 1, 9); nun werden die erschrockenen Menschen Zeugen, wie die zwei Propheten auf einer Wolke zu Gott in den Himmel erhoben werden.

Warum haben die Zeugen nach ihrer wunderbaren Rückkehr zum Leben nicht von neuem ihre Wirksamkeit auf Erden aufgenommen? Wäre es nicht ein stolzer Triumph der Kirche über ihre gedemütigten und kleinlaut gewordenen Feinde gewesen, und hätten nicht viele sich zu ihr zurück führen lassen? Auch hierbei wiederholt sich das Leben Jesu in der Geschichte seiner Kirche. Er hat nach seiner Auferstehung nur mehr mit seinen Jüngern Verkehr gehabt. An seinen Feinden aber begann wahr zu werden, was er ihnen auf dem Laubhüttenfest angedroht hatte: „Ich werdet mich suchen, aber nicht finden, und dahin, wo ich bin, könnt ihr nicht kommen“ (Joh. 7, 34). „Gott drängt sein Wort niemandem auf. Die Menschheit wollte sie los werden, weil ihr das Wort der Zeugen zur Qual wurde. Sie ist sie endgültig los geworden“ (W. Hadorn 123).

Das Verhalten der Erdbewohner und namentlich der Bewohner der „großen Stadt“ gegenüber den vom Tier aus dem Abgrund getöteten Propheten war so nichtswürdig, dass es eine weitere Sühne forderte. Wie beim Tod Jesu und bei seiner Auferstehung die Erde bebte und den Menschen Schrecken einjagte (Matth. 27, 51 u. 54; 28, 2), so sucht ein großes Erdbeben die schuldig gewordene Stadt heim. Ein Zehntel ihrer Häuser stürzt zusammen, und siebentausend Menschen finden unter den Trümmern den Tod. Das offensichtliche Strafgericht des Allmächtigen bleibt nicht ohne Eindruck auf die Überlebenden. Zum letzten Mal ist in den Visionen hier die Rede davon, dass die Menschen in sich gingen. Ob aber eine wirkliche Bekehrung daraus wurde, darf bezweifelt werden. Später wird die Verstocktheit zweimal erwähnt (16, 9 u. 11). Furcht vor Gott, hervor gerufen durch eine verheerende Naturkatastrophe, kann mit Hilfe der Gnade zum „Anfang der Weisheit“ werden (Ps. 111 (110), 10). Hier scheint es aber dem Seher weniger um ein Urteil über die Aufrichtigkeit der Bekehrung zu tun zu sein als um die Feststellung, dass Gott sich als den Stärkeren erwies und die frivolen Spötter dazu brachte, ihm die Ehre zu geben. Es geht demnach wohl zu weit, wenn aus diesem Umschwung der Stimmung geschlossen wird, auf den großen Abfall vom Glauben und auf die Zeit der heidnisch-dämonischen Übermacht werde eine allgemeine Rückkehr der Menschheit zur Kirche folgen.

Wäre das der Sinn des 14. Verses, so hätte Gott mit dem nun beendeten zweiten Wehe die Heimholung der Welt erreicht, und es brauchte kein drittes Wehe so rasch zu folgen. Was im Bericht über dieses zweite Wehe am Auge des Sehers vorüber zog, waren die furchtbaren Plagen, die sich an das sechste Posaunensignal anschlossen (9, 13ff). Auch das mit 10, 1 beginnende Zwischenspiel gehört zu dem zweiten Wehe, bildet aber zugleich das Vorspiel zum gewaltigen Entscheidungskampf, der mit Kap. 12 anhebt. Kein weltfremder Optimismus soll die Christenheit über den furchtbaren Ernst der nahenden letzten Entscheidung hinweg täuschen. Denn ehe sie fällt, bricht die bitterste Zeit über die Kirche herein. Ihr Besitzstand geht zum weitaus größeren Teil an die Heiden verloren. Die Sittenlosigkeit in den ehedem zur Kirche gehörigen Teilen der Menschheit wird so groß, dass die Stadt Jerusalem, das Symbol der Kirche, den Namen Sodoma und Ägypten verdient. Und da das Tier aus dem Abgrund unmittelbar den Kampf gegen die unerschrockenen Zeugen Gottes aufnimmt und sie tötet, scheint das Schicksal des Gottesreiches besiegelt zu sein. Hiermit aber hat der Seher den Ereignissen vorgegriffen und schon eine Episode aus dem Endkampf selbst geschildert. Er will nämlich gerade durch den Hinweis auf den scheinbaren Sieg des Bösen und auf die danach unverhofft einsetzende Hilfe Gottes schon in dem Zwischenspiel nachdrücklich zum Vertrauen aufrufen. Wenn die Not am größten geworden ist, wird der Herr den Seinen tatsächlich am nächsten sein. Wenn die Feinde jubeln und sich beschenken, weil die Bußprediger tot sind, weht schon der Geist Gottes, der diesen neues Leben einhaucht. Wieder einmal sieht sich der Gotteshass und Unglaube zu dem Geständnis genötigt, dass die Wahrheit gesiegt hat… Zugleich ist die Perikope ein hohes Lied auf die Zeugenschaft für Christus, ganz darauf ausgerichtet, die Christen mit Todesverachtung zu durchdringen, des Wortes Christi eingedenk: „Ich sage aber zu euch, meinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und nachher nichts weiter zu tun vermögen. Ich will euch aber zeigen, wen ihr fürchten sollt: Fürchtet den, der die Macht hat, nachdem er getötet hat, in die Hölle zu stürzen. Ja, ich sage euch: den fürchtet!“ (Luk. 12, 4f) Von diesem Geist beseelt, dürfen die Christen getrost dem letzten Ansturm des Teufels entgegen sehen. Er findet sie gerüstet. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 166 – S. 168
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