Apokalypse
Die zwei Zeugen. Kap. 11, Vers 7-10. Das Tier aus dem Abgrund besiegt die zwei Zeugen
Menschliche Widerstände mögen den Zeugen Gottes nichts anzuhaben. Aber gegen Ende der Heidenzeiten holt der Teufel zum entscheidenden Schlag gegen das Reich Christi aus. Er sieht, dass seine Anhänger auf Erden vergeblich den beiden Propheten zu schaden trachten. Darum schickte er einen höllischen Bundesgenossen, das „Tier aus dem Abgrund“. Wie die zwei Zeugen, so ist auch dieses Tier den Lesern bekannt gewesen, und zwar aus dem Buch Daniel (7, 7ff). Dass es hier schon genannt wird, während erst im 13. und 17. Kapitel Näheres von ihm gesagt wird, beweist ähnlich wie die Vorwegnahme anderer Berichte, dass die Visionen der Apokalypse keine genaue chronologische Abfolge der Ereignisse enthalten, wenn auch in den Hauptzügen ein Nacheinander der endzeitlichen Entwicklung und eine Zielstrebigkeit auf das Gericht hin gewahrt ist.
Der Teufel muss mit dem Eingreifen seines Sendlings warten, bis die Zeugen „ihr Zeugnis vollendet haben“. Schon darin gleichen sie ihrem göttlichen Meister, dem kein Feind etwas anhaben konnte, ehe „seine Stunde gekommen war“ und er zum Vater beten durfte: „Ich habe das Werk vollendet, das du mir aufgetragen hast“ (Joh. 17, 1 u. 4). Hier klingt ein Lieblings-Gedanke des vierten Evangelisten an (Joh. 7, 30; 8, 20; 12, 23 u. 27; 13, 1; 16, 2 u. 3 u. 25 u. 32). Es ist zugleich wiederum das starke apokalyptische Trostmotiv für die Gläubigen: Der Vater im Himmel hat „in seiner Macht die Zeiten und Fristen festgesetzt“ (Apg. 1, 7), die Zeiten der Prüfungen wie der Triumphe seiner Kirche.
Aus dem Abgrund steigt das Tier herauf, wo die Dämonen gefesselt sind, bis Gott ihnen erlaubt, sich auf Erden zu betätigen (Offb. 9, 1f. u. 11; 20, 3 u. 8). Dass der Satan in dieser Weise gegen die Gotteszeugen vorgeht, beweist deutlicher als ihre bisherigen Erfolge ihre wahre Größe. „Niedrige Bäume werden selten vom Blitz getroffen; seichte Gewässer neigen nicht dazu, Ländereien zu verwüsten; aus Lämmerwolken stürzen keine Ungewitter. Der Teufel bemüht sich selten um kleinliche Seelen!“ (Gertrud von Le Fort)
Der ungleiche Kampf der zwei Propheten gegen das dämonische Wesen endet mit ihrer gewaltsamen Tötung. Sie haben also auch vor dem Tier, dem Antichristen, nicht die Waffen gestreckt, sondern sind als Kämpfer gefallen. Sterbend für die Wahrheit, krönen sie ihr Zeugentum als Blutzeugen nach dem Vorbild Christi, des „wahrhaftigen und getreuen Zeugen“.
Gott hat ihren Untergang zugelassen. Er läßt sogar die Schändung ihrer Leichen zu. Wie der Teufel nie mit ehrlichen Waffen ficht, so kennt er auch keine Rücksicht auf die Ehre der gefallenen Gegner. Das schmachvollste, was in der Vorstellung der Alten einem Toten geschehen kann, tut er ihnen an, indem er ihre Leichen auf der Hauptstraße oder dem Marktplatz der großen Stadt liegen läßt. Diese Stadt verdient den Namen Jerusalem nicht mehr; er bleibt fortan dem himmlischen Jerusalem vorbehalten. Seitdem die Heiden von der Stadt Besitz ergriffen und bis zum äußeren Vorhof des Tempels darin alles zertreten haben, was an die Gott geweihte Vergangenheit erinnerte, ist sie auch nicht mehr die „heilige Stadt“ (11, 2). Nun gebührt ihr „in geistigem Sinne“, also symbolisch, der Name Sodoma und Ägypten. Sodoma ist der Typ einer von Sünde und Laster völlig beherrschten Stadt (vgl. Is. 1, 9f; 3, 9; Ez. 16, 44-49). Ägypten aber, das Land des Götzendienstes und der Unterdrückung Israels, wird auch Weish. 19, 13-17 neben Sodoma als abschreckendes Beispiel der Verkommenheit genannt. Bliebe noch ein Zweifel, ob Johannes unter der „großen Stadt“ wirklich Jerusalem und nicht etwa Rom meint, so wird die Ortsangabe eindeutig durch den Hinweis, dass die zwei Zeugen dort umkommen und unbeerdigt auf der Straße liegen werden, „wo auch ihr Herr gekreuzigt worden ist“. Diese Bemerkung ist unter den verschiedenen Hinweisen der Apokalypse auf den historischen Christus der bestimmteste. Als die Juden den Gottessohn in Jerusalem ans Kreuz geschlagen hatten, glaubten sie ebenso den endgültigen Sieg über ihren am meisten gehaßten Gegner errungen zu haben wie jetzt der Antichrist durch die Tötung und Schändung der zwei Zeugen. Der Erlösungstod Christi machte Jerusalem zugleich zur heiligsten Stätte auf Erden und zum örtlichen Inbegriff aller Gottfeindlichkeit. Deshalb lag für den Seher nichts näher, als den großen Abfall von der Kirche, die besondere göttliche Hut der Treugebliebenen sowie das Wirken und den Tod der beiden Zeugen Christi dort zu lokalisieren. „Wie ihm der Abfall innerhalb des Christentums, in die bildliche Sprache der Vision umgesetzt, eine Okkupation Jerusalems durch die Heiden ist, so vollzieht sich der Sieg des Antichristen über die Propheten innerhalb der Vision ebenfalls in Jerusalem“ (Jos. Sickenberger, Erklärung der Johannes-Apokalypse [Bonn 1940] 109). Dass sich diese Ereignisse der Endzeit auch in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit in der Hauptstadt Palästinas abspielen werden, ist damit keineswegs gesagt. Es ist kein Zufall, daß Johannes gerade in diesem Vers auf den „geistigen Sinn“ der Namen Sodoma und Ägypten aufmerksam macht und später hervor hebt, der Name Babylon für die Hure sei ein Geheimnis (17, 5).
Drei und einen halben Tag liegen die Leichen der Zeugen auf der Hauptstraße der Stadt. Auch das will im Sinne der gebrochenen Sieben als Zahl des Unheils verstanden werden, braucht also keine Anspielung auf die dreitägige Grabesruhe Christi zu sein. Jerusalem ist von den Heiden besetzt. Heiden und Völkergemisch fallen im biblischen Sprachgebrauch zusammen. So kommt es, daß „Leute aus den Völkern und Stämmen und Sprachen und Nationen“ während der dreieinhalb Tage die unbeerdigten Zeugen auf der Straße liegen sehen. Ihre Gefühlsroheit, aber auch ihr Hass gegen die Gottesboten sind so abgründig, daß sie nicht nur selbst den Ermordeten den primitivsten Erweis der Menschlichkeit durch das Begräbnis versagen, sondern jene, die es tun wollen, daran hindern. Ob das treu gebliebene Christen sind, die mutig aufzutreten wagen, oder aber Abgefallene, in denen noch nicht alles menschliche Gefühl erstorben ist, sagt der Seher nicht. Die Absicht der maßgebenden Kreise bei dem Verbot der Beerdigung ist unschwer zu erkennen. In den beiden Zeugen soll die Sache, der sie dienten, Christus, dem sie bis in den Tod die Treue wahrten, der Verachtung preisgegeben werden. Der heldenhafte Kampf der Lebenden hatte wohl seinen Eindruck auf jene, die noch tiefer zu denken vermochten, nicht verfehlt. Nun soll die Schande der Toten die Überlegenheit der antichristlichen Macht vor aller Welt dokumentieren. „Die tot geschlagene Wahrheit!“ hat man dieses Bild voll abstoßender Dämonie betitelt. Nicht ganz zutreffend! Die Zeugen der Wahrheit sind tot geschlagen. Dass die Wahrheit selber weiter lebt und ihren Hassern trotz des scheinbaren Sieges Angst einjagt, verraten sie durch ihr würdeloses Gebaren.
Ein weiteres psychologisches Motiv kommt hinzu und erklärt den Siegesjubel der „Bewohner der Erde“. Seine Erwähnung legt aber auch für die tiefe Menschenkenntnis des Apokalyptikers Zeugnis ab. Nichts ist für Apostaten und Gottesfeinde unerträglicher als die Tatsache, dass die Wahrheit Zeigen hat, die unerschrocken vor aller Öffentlichkeit für sie eintreten. Das rüttelt ihr Gewissen wach, und sie sehen darin eine „Belästigung“ oder „Quälerei“ der friedliebenden „Bewohner der Erde“. Nun hat, so glauben sie, diese Belästigung für immer ein Ende. Es ist nicht nötig, zu fragen, wie sich Johannes die Verbreitung der Nachricht vom Tode der zwei Zeugen innerhalb der dreieinhalb Tage auf der ganzen Welt vorgestellt habe. Bei apokalyptischen Zeitangaben sind solche Berechnungen verfehlt. Dazu kommt, dass mehr ein religiöser als ein geographischer Begriff ist. Er kennzeichnet jene, die auf Erden sich zu Hause fühlen, während die echten Christen als Gotteskinder im Himmel ihr „Staatswesen“, ihre Heimat haben (Phil. 3, 20). Vorher war es gefährlich, sich an den Zeugen zu vergreifen, weil ihre Wunderkraft jeden menschlichen Angreifer vernichtete. Nun, da das Tier aus dem Abgrund über sie gesiegt hat, ist der Jubel so groß, dass man sich zum Zeichen der Freude Geschenke zusendet, wie es einst die Juden machten, als Aman gestürzt und samt seinen Zehn Söhnen gehängt, den Juden aber in Susa und in den Provinzen von Assuerus gestattet worden war, ungestraft an ihren Feinden Rache zu nehmen (Esth. 9, 2ff). Alle widergöttlichen Instinkte dürfen sich nun austoben. Es ist für den Menschen eine Lust, auf der endlich von aller „Gewissensknechtung“ und jedem „kirchlichen Machtgelüste“ befreiten Erde zu leben. Sie fühlen sich so sicher wie die Machthaber in Israel, als sie endlich bei Pilatus ihren Willen durchgesetzt und Christus ans Kreuz gebracht hatten, wo sie ihn dann höhnisch lästerten. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 163 – S. 166
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