Apokalypse

Die siebte Posaune. Kap. 11, Vers 15-17. Das Siegeslied im Himmel

Ein Szenenwechsel versetzt uns mit dem Seher wieder in den Himmel. Das Zwischenspiel auf Erden ist beendet. Anknüpfend an 10, 7 berichtet nun Johannes, wie der siebte Engel sein Posaunen-Signal gibt. Es ist die „letzte Posaune“, wie sie in der paulinischen Apokalypse genannt wird (1. Kor. 15, 52), die „Posaune Gottes“(1. Thess. 4, 16). Sie kündet den Zeitpunkt an, von dem es im Schwur des gewaltigen Engels hieß: „Es wird keine Zeit mehr sein… Das Geheimnis Gottes ist vollendet“ (10, 6f). Der zweite Akt des Weltendramas kann beginnen. Wir erwarten, daß nach dem Signal sogleich das dritte und letzte Wehe einsetzt (9, 12). Statt dessen wird der Leser durch etwas ganz anderes überrascht, zugleich aber seelisch auf die Ereignisse vorbereitet in denen sich die siebte Posaunen-Vision später als drittes Wehe entfaltet. Hier wird wiederum eines der künstlerischen Formgesetze der Apokalypse erkennbar, wonach aus dem letzten Glied einer Siebenheit wie aus einer Knospe sich eine neuen Siebenheit entwickelt. Ehe der gigantische Endkampf geschildert wird, erklingt das Ouvertüre mit den Hauptmotiven ein zweifaches Siegeslied im Himmel, als sei bereits alles entschieden. So gelingt es dem Apokalyptiker, die Spannung der Leser zu steigern, ihnen aber auch die bange Sorge um das Endschicksal der Kirche zu nehmen, ähnlich wie er es vorhin in den Szenen von der Tempelmessung (siehe den Beitrag: Wer für den Abfall reif ist) und den zwei Zeugen (siehe den Beitrag: Die zwei Zeugen Gottes Werkzeuge) tat. Über alles Leid der kommenden Kampfzeit hinüber lenkt er den Blick der Christenheit zu dem Glück des auf ewig gesicherten Friedens im Gottesreich, da jede Not ein Ende haben wird (21, 3ff). Es ist, als könne er gar nicht oft genug einen der Leitgedanken des Buches wiederholen: Im Himmel, nicht auf Erden werden die Geschicke der Menschheit bestimmt. Dort weiß man um den Endsieg und feiert ihn, ehe noch der Kampf recht begonnen hat; denn bei dem ewigen Gott ist auch die fernste Zukunft Gegenwart.

In wuchtigen Klängen rauscht nach dem Schall der Posaune ein erstes Siegeslied durch den Himmel (Vers 15). Es wird fortgesetzt und erweitert vom Chor der vierundzwanzig Ältesten (Vers 16-18). Dann erscheint im Himmel die Bundeslade, und Naturkatastrophen leiten die Zeit der Parusie ein (Vers 19). So ist die Szene übersichtlich gegliedert, nach vorwärts und rückwärts im Gesamtplan verankert.

Ein unsichtbarer Chor himmlischer Geister singt da erste Lied. Von der Vernichtung der Feinde wird darin nichts erwähnt. Sie ist ja selbstverständliche Voraussetzung, da nun endlich die Herrschaft Gottes und seines Gesalbten, des Messias aufgerichtet ist. Und zwar ist es die Weltherrschaft, das Königreich über die ganze Schöpfung. Sie gehörte von jeher dem mit Gott zur unlösbaren Einheit verbundenen Christus, dessen Name hier noch als Amtstitel, nicht als Eigenname verwendet ist, ebenso 12, 10. Aber auch der Gebrauch als Eigenname ist der Apokalypse nicht fremd (20, 4 u. 6). Erst am Ende unseres Äons wird also die Königsherrschaft Christi über diese Welt vollendet und für die ganze Ewigkeit gesichert sein. Bis dahin wirft Christus absichtlich den „Fürsten dieser Welt“ nicht endgültig hinaus (Joh. 12, 31) – Es ist darum kein Zufall, wenn an den beiden einzigen Stellen, an denen der Ausdruck „Königreich der Welt“ (Offb. 11, 15) und „Königreiche der Welt“ (Matth. 4, 8) vorkommt, das eine Mal vom Teufelsreich die Rede ist, das andere Mal aber von eschatologischen Weltreich Christi. Wer das bedenkt, wird nicht erwarten, daß die Kirche als das Reich Christi auf Erden je die ganze Welt beherrschen oder verchristlichen werde, ehe der Herr zum Gericht erscheint. Nicht einmal während der Fesselung des Teufels auf tausend Jahre, wenn er die Völker nicht mehr verführen kann und die Kirche Frieden und Freiheit genießt, werden alle Völker der Erde zu ihr gehören; denn „an den vier Ecken der Erde“ wohnen dann noch die unbekehrten Stämme Gog und Magog, an die sich der Teufel nach seiner Freilassung wendet und die ihm zum letzten Kampf folgen (20, 2 u 3 u 8). Wenn bei diesem Ausblick in die Zukunft nichts von der Seligkeit der Einzelseele gesagt, sondern lediglich die Errichtung des Weltkönigreichs Gottes und Christi gefeiert wird, so beweist das nicht, daß zu der urchristlichen Jenseits-Hoffnung nicht auch die individuelle Beseligung gehört habe. Sie kommt nachher ebenfalls zur Geltung (11, 18; 21, 3f; 22, 4). Aber die Sehnsucht nach dem Kommen des Reiches stand im Vordergrund. So entspricht es der Ordnung der Bitten im Herrngebet (Matth. 6, 10).

Ohne daß jemand auf das Lied des unsichtbaren Himmelschores mit „Amen“ geantwortet hätte, wie es in der Vulgata steht, setzt der Chor der vierundzwanzig Ältesten das Siegeslied fort, erweitert es und gestaltet es zu einem Dankeshymnus. Und weil dieser Chor sichtbar ist, verbindet sich mit dem Gesang eine liturgisch bewegte Huldigungs-Zeremonie vor dem Thron des Allherrschers, wie wir sie aus 4, 10; 5, 8 und 5, 14 kennen, und wie sie sich 19, 4 wiederholt.

Es bedarf keiner Bitte mehr. Die Zeit der Not ist ja ein für allemal vorbei. Das Motiv: „Wir sagen dir Dank“, verstummt auch in der Liturgie der streitenden Kirche nie. Im Gloria und in der Präfation ist der Anklang an den Hymnus der Ältesten deutlich vernehmbar. In der bekannten Dreiheit der Aussagen über den ewigen Gott fehlt hier die dritte: „der da kommt“. Mit Bedacht ist sie fortgelassen; denn der Allherrscher ist bereits da, das Gericht ist vorüber. Das haben die Übersetzer ins Lateinische und einige Abschreiber des Urtextes nicht beachtet, als sie schematisch auch hier dieses dritte Glied beifügten.

Weil der Hymnus der geschichtlichen Entwicklung voran eilt und die Vollendung der Dinge vorweg nimmt, stehen die Zeitformen in der Vergangenheit: Gott „hat seine große Macht ergriffen und die Königsherrschaft angetreten“. Die Zeit ist vorüber, in der Gott als der große Schweigsame sich verborgen hielt und scheinbar die Macht des Bösen auf Erden gewähren ließ, ohne mit starker Hand einzugreifen. Das schuf den Kleingläubigen Zweifel an der Vorsehung oder gar am Dasein Gottes und reizte die Ungläubigen zur spöttischen Frage: „Wo ist nun ihr Gott?“ (Ps. 79 [78], 10). Der Tor sprach sogar in seinem Herzen: „Es gibt keinen Gott“ (Ps. 14 [13], 1). Er konnte es in seinem eigenen Geltungsdrang und Stolz nicht fassen, daß ein höchster Herr im Himmel wohne, der so wenig aus sich selber mache. Langmütig hat der Allmächtige „vom Himmel hernieder auf die Menschenkinder geschaut und wollte sehen, ob es einen Vernünftigen gäbe, nämlich einen, der nach Gott noch frage. Doch alle sind sie abgewichen, allesamt entartet“ (Ps. 14, [13], 2f). –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 169 – S. 171
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