Apokalypse – Engelrufe künden das gericht an

Engelrufe künden das Gericht an. Kap. 14, Vers 6-8. Ewige Heilsbotschaft und ihre Ablehnung

Die Offenbarung ist an einem Wendepunkt angelangt. Auf der einen Seite stehen die Streitkräfte des Drachen, auf der anderen die des Lammes bereit. Aber ehe die Entscheidung fällt, bietet Gott nochmals Gnade und Erbarmen all denen an, die guten Willens sind. Hoch oben im Zenit des Himmelsgewölbes, wo früher der Adler das dreimalige Wehe ausrief  (8, 13), sieht Johannes nun einen „andern Engel“, das heißt, noch einen Engel, wieder einen Engel, dahin fliegen, verschieden von den bisher erschienenen Gottesboten (5, 2; 10, 1) Seine Aufgabe ist es, den Menschen auf der ganzen weiten Erde, die als Scheibe und von der Halbkugel des Himmels überwölbt gedacht ist, „eine ewige Heilsbotschaft“, ein „ewiges Evangelium“ zu verkünden. Nur hier verwendet Johannes dieses sonst im Neuen Testament so häufige Wort. Von Ewigkeit her ist das Evangelium im Ratschluss Gottes festgelegt und für alle Ewigkeit gültig. Es richtet sich also nicht nach den wechselnden „Weltanschauungen“ der Menschen; diese haben sich vielmehr an seiner unabänderlichen Wahrheit zu orientieren. Keine Nation oder Rasse, keine völkische oder sprachliche Gemeinschaft ist davon ausgeschlossen (5, 9; 7, 9; 11, 9; 13, 7; 17, 15). Es erfüllt sich also, was Jesus in der synoptischen Apokalypse voraus gesagt hat (Matth. 24, 14; Mark. 13, 10). Niemand auf Erden wird sagen können, ihm sei von Gottes Heilsplan und Gnaden-Angebot nichts bekannt geworden. Ob die Erdbewohner gerade hier mit Absicht als „die auf der Erde Sitzenden“ bezeichnet sind, als solche, die sich auf Erden behaglich nieder gelassen und darüber bisher den Himmel vergessen oder verschmäht haben? Dem Zusammenhang entspricht das durchaus.

Den Inhalt der ewigen Heilsbotschaft bilden die Grundwahrheiten des ersten Glaubensartikels und des ersten Gebotes im Dekalog. Ohne sie gibt es keinen Zugang zu Gott (Hebr. 11, 6). Daran schließt sich der Hinweis auf das bevorstehende Endgericht. Die Entscheidung vollzieht sich durch die ersten Wahrheiten des Glaubens: Die Furcht und Ehrfurcht vor Gott, dem Allheiligen und Allgerechten, die Anerkennung seiner unumschränkten Oberhoheit wird gefordert, und zwar von den Menschen aller Zeiten und aller Länder (vgl. Apg. 10, 35; 14, 15-17; 17, 24-31; Offb. 4, 11). Vor ihm, dem Schöpfer des Alls, muss jeder in Anbetung das Knie beugen, sonst wird er im nahen Gericht nicht bestehen. Was der alt-testamentliche Prediger als „Summe des Ganzen“, als „Schlusswort“ zu hören befiehlt, ist auch der Inhalt der ewigen Heilsbotschaft des apokalyptischen Engels: „Fürchte Gott! Halte seine Gebote! Das gilt für jeden; denn mit allem Tun wird Gott ins Gericht gehen, ja mit allem, auch mit dem Verborgenen, mag es gut sein oder böse“ (Pred. 12, 13f). Wer bisher das Tier und sein Bild angebetet hat, wird gemahnt, sich zu bekehren und dem einzig wahren Gott zu huldigen. Gottes Langmut ist erschöpft. (siehe: Übertretung der Gebote)

Kann aber diese Botschaft des Engels ein „ewiges Evangelium“, also eine „ewige Frohbotschaft“ genannt werden? Für die geplagten und verfolgten Christenjünger ist es sicher eine frohe Kunde, eine „gute Mär“, wie unsere Vorfahren das Evangelium nannten. Sie haben das Gericht nicht zu fürchten. Die andern aber mögen wissen, daß es allzeit etwas bitter Ernstes um das Evangelium ist. Es geht darin um letzte Entscheidungen, um Bekehrung und Buße, um das „metanoein“, das gänzliche Umdenken des dem ich und der Welt verhafteten Menschen. Nichts anderes haben Jesus und sein Vorläufer gemeint, als sie auftraten und begannen, die „Frohbotschaft von der Königsherrschaft Gottes“ zu verkünden und reuige Umkehr zu fordern (Matth. 3, 2; 4, 17 u. 23; Mark. 1, 14f).

Die Liturgie hat aus den Versen 6 und 7, verbunden mit 5, 11, das fünfte Responsorium am dritten Sonntag nach Ostern geformt. Im dritten Responsorium ist Vers 2 verwendet. Anlass dazu gab wohl der Preis der Schöpfermacht Gottes im Introitus und die Aufforderung der Epistel: „Fürchtet Gott!“ (1. Petr. 2, 17) Ferner werden Teile der Verse 6 und 7 im zweiten Responsorium am Fest der heiligen Märtyrer Johannes und Paulus und im vierten Responsorium des Gemeinschafts-Offiziums der Apostel gebraucht.

Ein zweiter Engel meldet, ebenfalls vom Zenit herab, der ganzen Welt, daß Gottes Gericht bereits begonnen hat, und zwar an Babylon. In prophetischer Schau wird hier das Ergebnis als schon eingetreten verkündet, während später erst der Verlauf geschildert wird (Kap. 17-18): „Gefallen, gefallen ist Babylon das Große!“ Die Wiederholung soll keinen Zweifel an der Tatsache aufkommen lassen und die völlige Vernichtung anzeigen (vgl. Is. 21, 9). Dem Israeliten war Babylon am Euphrat der Inbegriff, der Typ der gottlosen, götzendienerischen Weltmacht, Israels Todfeind in politischer und mehr noch in religiöser Beziehung. Dort hatte schon in der Urzeit die menschliche Hybris sich ihr Denkmal errichtet im „babylonischen Turm“ (1. Mos. 11, 1-9). Immer wieder hatte Gott den Titanenstolz dieser Stadt gedemütigt (Is. 13-14; Jer. 50-51; Dan. 2, 31ff). Übermütig hatte Nabuchodonosor seine Residenz als „Babylon das große“ oder „Groß-Babylon“ bezeichnet und wurde sofort vom Himmel her dafür bestraft (Dan. 4, 27ff). Längst lag dieses geschichtliche Babylon in Trümmern, aber es war weiter Symbol einer gottlosen und sittenlosen Weltstadt geblieben, so daß von Juden und Christen Rom als Babylon bezeichnet wurde, wie heute Paris als „Seine-Babel“, London als „Themse-Babel“ gilt (1. Petr. 5, 13; Sibyll. 5, 143 u. 159; Tertullian, Adv. Marc. 3, 13 u. ö.). Um diese Benennung Roms hat Johannes ohne Zweifel gewußt. Damit ist aber nicht gesagt, daß in seiner endzeitlichen Vision der Untergang der Stadt Rom voraus verkündet werde.

Babylon ist vielmehr der konkrete, typische Name für die Hauptstadt im Weltreich des Antichristen, für den Mittelpunkt aller Gottlosigkeit und Sittenlosigkeit, für den Ausgangspunkt aller Feindschaft gegen das Reich Christi. Babylon ist also das Gegenstück zum Sion. Wie eine Dirne hat es allen Völkern den „Zornwein seiner Unzucht“ kredenzt. Nur zu bereitwillig haben die Völker alle Schlechtigkeiten seiner entnervten Überkultur in sich aufgenommen, und namentlich auf dem Sexualgebiet war der Einfluss Babylons so verheerend, daß die Triebe bis zur sinnlosen Raserei eines Trunkenen entfesselt wurden. Zornwein wird die Unzucht aber auch deshalb genannt, weil Babylon dadurch die Völker dem Zorn der göttlichen Gerechtigkeit ausliefert, oder weil in der unwürdigen Versklavung durch die Leidenschaften eine Strafe für den Abfall von Gott liegt, wie es Paulus im Römerbrief dartut (1, 18ff). –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 214 – S. 216
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