Der Reformkatholizismus der älteren Ordnung

Der Reformgeist Ende des 18. Jahrhunderts

47. Über seine kirchenrechtlichen Grundsätze zu handeln ist nicht nötig noch möglich. Sie sind in der denkbar vollständigsten Weise gesammelt in den Werken von Espen, Febronius, Oberhauser, Eybel, Pehem, Riegger u.a. Einen Auszug auch nur der wichtigsten Lehren zu geben, würde hier viel zu weit führen. Genug, daß sie fast alle der Kirche ihr selbständiges Recht absprechen und sie mehr oder minder unter die Oberherrschaft des Staates stellen. …

48. … Selten allerdings finden sich unter ihnen deren, aber es finden sich deren, die für die Rechte der Kirche gegen die Übergriffe des Staates ihre Stimme erheben. Dahin gehört der seltsame Benedikt Stattler, der nebenbei wieder mit demselben Ernst gegen die Unterdrückung der Kirche spricht wie gegen die Scholastik und gegen Kant und gegen die Illuminaten.
Es war eben eine Zeit der Unruhe, der Verwirrung und der Neuerung, daß auch gut gesinnte, ernste und gelehrte Männer im besten Glauben, Gott einen Dienst zu erweisen, hier der Kirche Wunden schlugen und sich dort Wunden für sie schlagen ließen.
Die bekannten jansenistischen Bischöfe Pavillon und Caulet samt ihren Anhängern sind sprechende Beispiele für das Gesagte. So entschieden sie dem Papst widerstanden, so entschieden widerstanden sie auch den Übergriffen Ludwigs XIV. im Regalienstreit… Sicher darf man auch bei dem einen oder andern den jansenistischen Geist des Widerspruches, der Tadelsucht und der Widersetzlichkeit gegen alle und jede Autorität etwas in Rechnung ziehen. Vielleicht war mancher unter den gallikanischen Bischöfen, dessen Widerstand gegen die Anmaßung der Staatsgewalt uns mit Recht ungenügend erscheint, immer noch von reinerem Eifer für Wahrheit und Recht erfüllt als dieser oder jener Jansenist, der durch ungemessene Heftigkeit Aufsehen machte und für seinen herkömmlichen Starrsinn auf dem unrechten Gebiet durch eine außergewöhnliche Hartnäckigkeit in einer gerechten Sache vor seinem Gewissen und vor der Welt Rechtfertigung suchte. Ein Beispiel dieser Art haben wir in späterer Zeit an Lamennais, der uns zugleich zeigt, daß Maßlosigkeit, selbst zu gutem Zweck und in guter Sache geübt, zum Verderben ausschlägt. Denn vom Kampf gegen die Übergriffe der weltlichen Macht riß ihn sein Ungestüm zur Untergrabung der Autorität selber hin und von da zur Verweigerung jeder kirchlichen Unterordnung und endlich bis zum vollen Abfall von der Kirche und vom Glauben. Auch von Dereser, dem bekannten rationalistischen Exegeten, lesen wir, daß er der weltlichen Obrigkeit allenthalben nicht weniger Schwierigkeiten bereitet habe als der zeitlichen. Übrigens weiß die Welt längst aus dem Vorgehen der Donatisten und der Albigenser, der Husiten und der Wiedertäufer, daß sich das heftigste Auftreten gegen die weltliche Gewalt mit Unkirchlichkeit ebenso verträgt wie Byzantinismus und Liberalismus und Libertinismus.
Wie überall, so entscheidet auch hier nur ein einziger Prüfstein mit voller Zuverlässigkeit über die Echtheit des Eifers und die Richtigkeit des Verhaltens – das sentire cum Ecclesia.

49. Wir sehen, um es mit einem Worte zu sagen, daß die Berechtigung einer theologischen und kirchlichen Partei nicht von der guten oder schlimmen Absicht, nicht vom guten Willen, nicht von der Tugend und Frömmigkeit ihrer Vertreter abhängt und nicht von dem Nutzen, den sie da oder dort stiftet. An der Frömmigkeit und am aufrichtigen Eifer von Fénelon zweifelt niemand, so wenig als bei Hirscher und bei Rosmini. Dennoch gingen sie irre. Daß manche durch Pascal und durch Nicole für das Christentum mögen gewonnen worden sein, läßt sich so wenig bezweifeln als die Tatsache, daß Günther auf manche erweckend eingewirkt hat. Und so wollen wir gerne auch die gute Meinung an den beiden Erthal und an Klemens Wenzeslaus und zuletzt an Dalberg anerkennen, ohne daß wir deshalb aufhören müssten, ihre Haltung in den kirchlichen Fragen der Zeit aufs tiefste zu beklagen. In Dingen der Lehre, und wo die kirchlichen Grundsätze auf dem Spiele stehen – wir können das nicht oft und nicht entschieden genug sagen – gibt es nur eine Richtschnur für die Entscheidung: das unerschütterliche Festhalten an der kirchlichen Lehre bis zum letzten Jota.

50. Daß es aber den Reformern jener Zeit hieran stark gefehlt habe, und daß der Mangel daran nicht immer mit gutem Gewissen verbunden gewesen sei, das ergibt sich zur Genüge, wenn wir schließlich die Stellung erwägen, die sie zur ersten Quelle des christlichen Glaubens, zur Heiligen Schrift, eingenommen haben.

51. Wir haben uns schon früher davon überzeugt, daß die Anhänger der Neuerung ganz und gar bei den Protestanten in die Schule zu gehen pflegten. Selbst aus den Klöstern schickte man die talentvollsten Leute nach Königsberg, damit sie bei Kant Philosophie studierten, und nach Göttingen, um bei Michaelis und bei Eichhorn das Verständnis für die Heilige Schrift zu holen…

52, Die Früchte davon zeigten sich in der betrübendsten Weise. Von jener Rücksicht auf die heiligen Väter, die das Konzil zu Trient dem katholischen Schriftausleger zur Gewissenspflicht gemacht hat, war natürlich keine Rede mehr. Jedenfalls, sagt Werkmeister, müsse man bei ihnen die strengste Prüfung vornehmen, um zu finden, ob sie nicht zu „seicht“ seien. Monsperger in Wien entblödete sich nicht, auf dem Katheder zu sagen: „Der Esel, der hl. Augustin! Der Esel, der Hl. Hieronymus! Und diesem Mann wirft Ildefons Schwarz vor, er bleibe zu streng der Regel treu: Erkläre, wie die Kirche erklärt!

53. Nun, diesen Vorwurf fürchteten die neuen Schriftausleger mehr als jede Häresie.. Darum gingen sie dem eben genannten Grundsatz aus dem Wege, soweit als möglich. Ein „steifer Anhänger der kirchlichen Orthodoxie“ galt ihnen als ein schlechter Erklärer der Heiligen Schrift. Ein Mann, der sich den Namen eines „hellen Kopfes“ erwerben wollte – damals mehr wert als der eines Heiligen -, musste „unverblendet von Autoritäten, von der Dogmatik und Polemik, aus den Meinungen anderer (natürlich katholischer) Ausleger das Beste wählen, wo er es fand, selbst bei Protestanten“. Und bei ihnen fanden diese Männer stets das Beste. Darum nahmen sie keinen Anstand, um mit Werkmeister zu reden, den Vätern „die schönen und gründlichen Werke der Exegese vorzuziehen, die uns der protestantische Fleiß so reichlich geliefert hat“.

54. In dieser Schule nahm begreiflich die Heilige Schrift bald ein anderes Aussehen an al nach jener Auslegung, die sich nach dem richtete, „was die ehemalige steife Orthodoxie zu glauben gebot“. Von messianischen Weissagungen, wie sie früher „nach der ehemaligen Dogmatik unserer Kirche eingerichtet waren“, konnte natürlich keine Rede mehr sein. Den Messias als einen allen Leiden unterworfenen Gott darzustellen, verriet einen Kapuziner, der den Vätern zu blindlings folgt. Überall Typen, Vorbilder, symbolische Bedeutungen auf den Messias erblicken galt als Anhänglichkeit „an alte, ja veraltete (!) Erklärungen“. „Die ganze Typologie sei ohne Grund, im Alten Testament finde sich kein Vorbild des Messias, nicht die eherne Schlange, nicht das Osterlamm, nicht Melchisedsch, nicht Jonas“. Die messianischen Weissagungen seien nur „Ahnungen einer glücklichen Zukunft für die unglücklichen Israeliten“.

55. … Die Erzählung vom Sündenfall, erklärt Dereser, sei ein altes hieroglyphisches Gemälde, der babylonische Turm ein Wächterturm für die Hirten, die Feuersäule in der Wüste eine dem Heer auf einer Stange voran getragene Pechpfanne oder etwas Ähnliches, die Geschichte von Jonas eine „lehrende Fabel“. Christus habe nicht 40 Tage gefastet, sondern nur keine „ordentliche Mahlzeit“ gehalten, um sich an Abtötung zu gewöhnen, „damit er es bei seinen Predigten besser aushalten könne“. Die Erscheinung des Teufels deute nur auf „satanische Gedanken“, die in Christo aufgestiegen seien. Die Besessenen seien einfach Menschen gewesen, die „mit gewissen Krankheiten behaftet waren“. Andere erklären den angeblichen Tod des Jünglings zu Naim als Ohnmacht und den des Lazarus als eine „hartnäckige“ Form von Ohnmacht; Jesus, ein „sehr geschickter Arzt“, habe die Ursache davon erkannt und ihn aus seinem „lethargischen Schlaf“ aufgeweckt. Am weitesten ging Lorenz Isenbiehl in seiner berüchtigten Erklärung der Stelle bei Jesaias 7, die so viel Ärgernis durch die ganze Welt hervor rief, daß zuletzt der Apostolische Stuhl selber eingreifen und das Buch wegen „falscher, ärgerlicher, verwegener, gefährlicher, irriger und häretischer Sätze“ verurteilen musste. Trotzdem wagt es Ildefons Schwarz, zu behaupten: „Eigentlich hätte unsere Kirche, ebenso die Protestanten und alle Bibelverehrer für diese Schrift danken sollen.“

56. Männer, die so denken und so sprechen, ist wohl der Glaube, wenn nicht abhanden gekommen, so doch nahezu fremd geworden. Und selbst wenn sie in aller Wahrheit von sich sagen können, was Isenbiehl erklärte, sie hätten die „löbliche Absicht, der katholischen Kirche ein Dienst zu leisten, so können sie doch kaum mehr behaupten, sie hätten vollständig guten Glaubens geirrt, geschweige denn daß sie versichern dürften, sie seien überzeugt, der Wahrheit zu dienen. Einen Wahnsinnigen kann man gegen seinen Willen vor dem Untergang retten wollen. Aber die katholische Kirche bis in die letzten Grundlagen ihres Glaubens und ihres Lebens hinein reformieren wollen trotz so vieler Proteste und Verwerfungs-Urteile, die sie gegen diese Richtung ausgesprochen hat, das heißt nicht bloß sich selber die Autorität anmaßen, die ihr zusteht, das heißt sie nicht bloß für so verderbt erklären, daß man sie um jeden Preis in Besserung nehmen müsse, ob nun im Guten oder mit Gewalt, es heißt sie als unzurechnungsfähig behandeln und damit ihre Unfehlbarkeit und ihre Leitung durch den Heiligen Geist in Abrede stellen.

aus: Albert Maria Weiß, Die religiöse Gefahr, 1904, S. 287-295