Der Reformkatholizismus der jüngeren Ordnung

Der Reformgeist Ende des 19. Jahrhunderts

1. Die Dinge standen zu Ende des 18. Jahrhunderts derart, dass ein Mann wie Weissenbach ein Buch über die Zeitlage schreiben konnte unter dem Titel: Die Vorboten des neuen Heidentums. Aber was allzu gewaltsam ist, sagt das Sprichwort, das dauert nicht. Die entsetzlichen Schläge der Revolution und der Säkularisation schienen zwar die kühnsten Erwartungen des Unglaubens erfüllen zu wollen, sie trafen aber zugleich die ganze Gesellschaft so furchtbar, daß die auf völlige Zerstörung der Religion gerichteten Bestrebungen ebenso plötzlich zur Einstellung gebracht wurden wie die politische Revolution selber.

2. Nicht als ob sich die Vertreter beider Richtungen bekehrt hätten. Ihre Zwecke und Grundsätze blieben nach wie vor die gleichen. Nur begriffen sie, daß die bisher gewählten Mittel zu gewalttätig und zu rasch gewirkt hatten. Deshalb suchten sie nach neuen, langsamer wirkenden Mitteln, um das alte Ziel, die Untergrabung der Religion, zu erreichen, ohne daß die Gesellschaft selber mit in den Untergang hineingezogen würde.

7. Kaum hatte darum der Liberalismus (siehe den Beitrag: Der Liberalismus in der Geschichte) das politische und das soziale Gebiet erobert, so drang er auch reformierend in die katholischen Kreise ein, die sich inzwischen von der entsetzlichen Heimsuchung durch glückliches Vergessen wieder erholt hatten. Seit Anfang der dreißiger Jahr ist er bereits Herr und Meister. In Frankreich führen ihn Lamennais und die Seinigen durch, in den deutschen Ländern Hermes und Günther mit den Ihrigen. Durch 40 Jahre macht er trotz aller Schwierigkeiten stille, aber beständige Fortschritte, bis endlich durch das Konzil die Katastrophe herbeigeführt wird, die den entschlosseneren Teil der gefährlichen Bewegung aus der Kirche hinaus ableitet.

8. Wieder tritt für einige Zeit Ruhe ein, teils ein Zeichen der Erschöpfung und der Bedenklichkeit, keineswegs aber der vollen Besserung, teils wegen der äußeren Stürme. Inzwischen ist eine neue Zeit angebrochen, die des Materialismus – man nennt sie kurzweg die des Verismus oder des Realismus, des Historismus, des Positivismus.
Sie macht ihren Einfluß auch in religiösen Dingen geltend. Der liberale Katholizismus zeigt in Folge davon, sobald er sich wieder mehr und mehr bemerklich macht – es ist das der Fall seit der achtziger Jahren -, nach zwei Seiten hin, nicht eine andere Natur, wohl aber einen andern Ton und ein verändertes Gepräge.
Indes er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im spekulativen, im philosophischen Gewand auftrat – des katholischen Glaubens als der Versuch zu einer Verschmelzung mit den Zeitphilosophen von Kant, von Hegel, von Schelling -, läßt er sich nunmehr zuerst beeinflussen von dem Überwiegen der geschichtlichen Forschung, die inzwischen alle und jede Philosophie in Verruf gebracht hat. Mit Döllinger tritt der Gedanke auf, die Theologie sei wesentlich, wo nicht ausschließlich, eine historische Wissenschaft – daß sie auch eine solche sei, hat gewiß niemand je in Abrede gestellt – und die Vollendung der Theologie in der Zukunft sei die nach den neuen Grundsätzen zu bearbeitende Dogmengeschichte.

9. Trotz alledem bleibt aber all diesen jüngsten Versuchen zur Neuerung der Charakter des Liberalismus gemeinsam. Dieser besteht seinem Wesen nach in einem Amalgam zwischen dem Modernismus und der Tradition. Während der alte radikale und revolutionäre Geist alles Hergebrachte völlig weg warf und zerstörte und blind auf Herstellung einer neuen Welt losstürmte, will der Liberalismus die Vorteile der Tradition und der Geschichte mit dem Eingehen auf Alles Neue vereinbaren, ungefähr wie die modernen Staaten die Rechte, die ihnen die Kirche früher durch Privilegien und Konkordate zugestand, eifersüchtig hüten, dabei aber eigenmächtig und gewaltsam durch organische Artikel und Religionsdekrete ihre Verpflichtungen umgehen und neue Vergünstigungen erzwingen.
Dieser selbe Kompromiss-Charakter gibt sich am deutlichsten kund in der Parole, womit der neuere katholische Liberalismus nunmehr die Geister berückt: „Ausgleich zwischen Katholizismus und der modernen Welt“, Rettung des Katholizismus und der modernen Welt zugleich durch die Aussöhnung beider.
Diese neuere Richtung hat auch sonst im einzelnen so ziemlich alles mit dem älteren Liberalismus gemein, jene optimistische Überzeugung von der Güte des Menschen und der menschlichen Gesellschaft, de oft hart an die Leugnung des Sündenfalles und der biblischen Lehre von der Welt streift, die Überschätzung der Wissenschaft und der Kultur als Mittel zur Verbreitung der Wahrheit, die Überhebung des Natürlichen und die Vernachlässigung, oft beinahe die Zurückweisung des Übernatürlichen, insbesondere aber die falsche Stellung zu den beiden Begriffen von Autorität und Freiheit.

10. Der letzte Punkt ist und bleibt immer und überall ein Wesensmerkmal und ein untrügliches Erkennungs-Zeichen des Liberalismus.
Das Wort Liberalismus ist nicht umsonst so schwer zu erklären. Ist es eine der größten Lügen oder doch Zweideutigkeiten, die die Geschichte kennt. Liberal tun mit fremdem Eigentum, über das einer kein Recht hat, ist nicht liberal, sondern Diebstahl verbunden mit Heuchelei und mit Hohn auf den rechtmäßigen Besitzer. Liberal tun, Konzessionismus treiben mit dem Eigentum Gottes, mit der Wahrheit, mit den um das Blut Jesu Christi erkauften Gnadenmitteln ist aber ein so großes Verbrechen, daß die volle Leugnung, die Häresie, vielleicht oft minder sündhaft, weil aufrichtiger ist. Auf jeden Fall ist der Name Liberalismus in religiösen Dingen so unpassend als nur möglich.
Ist Häresie religiöser Nihilismus, so kann man religiösen Liberalismus nur als Minimalchristentum, als Minimismus bezeichnen.
Minimismus ist aber nur eine andere Bezeichnung für den Utilitarismus, jenes schnöde Schachersystem, das, um mit seinen eigenen Worten zu sprechen, nur zwei Kunstgriffe anwendet: die „Maximisation der Forderungen“ und die „Minimisation der Leistungen“.

12. Dieses System, der Reformkatholizismus der jüngeren Ordnung, trat aber, wie gesagt, alsbald nach der großen Revolution auf den Schauplatz. In Frankreich war es Talleyrand, der es alsbald zur höchsten Blüte auf politischem Gebiet erhob, in Deutschland bürgerte es Wessenberg auf dem religiösen Gebiet ein.

aus: Albert Maria Weiß, Die religiöse Gefahr, 1904, S. 296-304