Liberalismus und Christentum

Der Kampf gegen Theologie, Klerus und Kirche

Der Kampf gegen die Theologie ist der Kampf gegen das Übernatürliche. Das Übernatürliche ist aber nicht bloß eine „Idee“, – es wird davon noch die Rede sein. Das Übernatürliche ist das Christentum. Auch das Christentum ist nicht ein leeres Gedankending. Das Christentum ist von Christus nur in der Gestalt der Kirche gestiftet; was außerhalb dieser vom Christentum erhalten ist, das ist nicht das echte, ganze Christentum Christi. Auch das wird später genauer behandelt werden.

Somit ist die Enttheologisierung nichts anderes als der Kampf gegen die Kirche. Die Kirche ist aber kein zusammenhangloser Haufe von zufällig und ohne Plan zusammen gewürfelten Stücken, sondern ein mit göttlicher Weisheit aufgeführter Bau, in dem nicht bloß die großen Hauptmauern, sondern selbst die Füllwände und die Schmuckstreben zur Einheit und zur Festigkeit des Ganzen beitragen. Wird von unberufenen Händen ein Teil herausgerissen, so ist das nie gleichgültig, sondern es trägt zur Erschütterung des Hauptgebäudes bei, und führt fast naturnotwendig zur stufenweisen Zerstörung der übrigen Teile.

Wir haben dafür ein sprechendes Beispiel in dem Vorgehen des Jansenismus und des mit ihm verbündeten Gallikanismus und Febronianismus, jener Sekten, in denen wir nun schon so oft die radikalen Vorbilder des späteren zahmen Liberalismus gefunden haben.

Zuerst richtete dieser Urliberalismus, radikal wie er damals war, seinen Angriff auf den Primat selber. Er begann mit der Behauptung, dessen angebliche Rechte seien nur die den Bischöfen entzogenen Rechte, und diese müßten sie wieder an sich zurücknehmen. Dadurch gewann er die Bischöfe in Frankreich, in Italien und Deutschland zum Widerstand gegen die „Kurie“, wie er sich auszudrücken pflegte. Sobald diese von Rom losgelöst und dadurch in eine schismatische, manchmal fast häretische Haltung hineingedrängt und damit wehrlos gemacht waren, hieß es weiter: Ja, aber auch die Bischöfe haben dem Klerus seine Rechte entzogen, auch dieser hat das Recht, in der Kirche Gottes zu regieren und teilzunehmen an der Gesetzgebung und an der Feststellung der Glaubenswahrheiten. Es dauerte nur so lange, bis der Klerus auf diesen Köder gegangen und damit in seiner Stellung erschüttert war, so folgte der Schluß: Aber auch der Klerus hat sich ungebührlich die Alleinherrschaft angemaßt; er ist nur Vertreter der Gemeinde und nur Zeuge für das, was diese glaubt, somit haben auch die Laien das Recht, die ihnen entrissenen Rechte wieder zurückzufordern. Dann erst ist die Kirche wieder zur ursprünglichen Verfassung zurückgeführt, wenn das Werk der Entklerikalisierung gründlich durchgeführt ist.

Die Sache wird nicht besser dadurch, daß selbst Geistliche in diesen Ruf einstimmen, und mitunter lauter ausrufen als die Laien, sie seien keine Klerikalen. Dem Ausgleich mit dem modernen Geist und der Befreiung des öffentlichen Lebens, also den beiden Hauptgesichtspunkten des Liberalismus, steht in der Tat der sogenannte Klerikalismus, d. h. die Vertretung der christlichen Grundsätze für das Leben in der Welt, immer hinderlich im Wege. Kein Wunder, daß ein Geistlicher, der sich zu den Anschauungen des Liberalismus mehr oder minder neigt, in den Aufgaben seines Standes immer gewisse Fesseln finden wird. Das Missvergnügen darüber und die innere Zerfallenheit mit dem Geist des Berufes und mit dem eigenen Gewissen bringt es dann leicht mit sich, daß solche Geistliche mit Ausfällen auf Pfaffentum und Pharisäismus und Sacerdotalismus groß tun, wie es ein Laie nicht so leicht tun würde. Wenn man sie hört, sollte man meinen, Wissenschaft, Kunst und Literatur könnten nie gedeihen, die sozialen Unternehmungen nie blühen, die Kulturbestrebungen nie vorwärts gehen, Katholiken und Protestanten könnten nie gemeinsam an die Lösung der nationalen Aufgaben gehen, solange die engherzigen Anschauungen der Schultheologen und die asketischen Vorurteile der beschränkten Seminarerziehung, solange die Rücksicht auf Autorität, Hierarchie und Kurie und die überlebten Abgeschmacktheiten des alten konfessionellen Unterrichtes in den Geistern ihrer zurückgebliebenen Standesgenossen hafteten.

Da hat allerdings das Streben nach Entklerikalisierung gute Aussicht auf Erfolg, wenn es aus den Kreisen des Klerus selber so kräftige Unterstützung findet. Vor gut einem Jahrhundert hat es, dank dieser Unterstützung, seine Früchte reich und überreich getragen. Wir wollen hoffen, daß es diesmal weder die gleiche Forderung noch das gleiche Gedeihen finde. Denn nun kann sich doch niemand mehr darüber täuschen, daß hier ein neuer entscheidender Schritt des Liberalismus zur Verwirklichung seines Zieles vorliegt. (Weiß, Liberalismus und Christentum, S. 120 – S. 126)

Gerade jene Geistlichen, von denen schon einmal die Rede war, jene, die sich in dem Satz gefallen, sie seien „keine Klerikalen“, jene die sich darauf berufen, sie handelten nicht als Geistliche, sondern nur als Staatsbürger, jene, die den Ruf „heraus aus der Sakristei!“ so verstehen, als sei auch der Zusammenhang mit der Sakristei gelöst, wenn sie deren Schwelle überschritten haben, sie treiben auch Laizismus, und schaden dadurch oft mehr als viele Laien. Das Werk von Ozanam war keine Laienarbeit, wohl aber das, was Lamennais und Gioberti taten. Dante, der Laie, war kein Laientheologe, Erasmus war es in dem Grade, daß kein Mensch an den Priester in ihm denkt. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß alles, was der Priester außerhalb der Sakristei tut und sagt, rein laiisch sei. Er kann und muss den Priester auch mitten in der Welt spielen. Aber gut ist es immer, wenn er nie vergißt, wie leicht er dort in die Rolle des Laien verfallen oder doch ihr nahe kommen kann. Ein Priester, hoch oder niedrig gestellt, der in einer öffentlichen Versammlung zwischen zwei Laien redet, nähert sich schon dadurch der Laientätigkeit. Geschieht das vor einer Zuhörerschaft, die Beifall klatscht und singt und Hoch ausbringt, dann kann man das keine priesterliche Wirksamkeit mehr nennen, selbst wenn der Gegenstand nicht rein weltlich ist. Das ist kein verbrechen, denn auch er ist Mensch und darf seine Menschenrechte ausüben. Nur muss er wissen, in welche Lage er sich begibt. Läßt er sich beklatschen, so räumt er den Zuhörern das Recht ein, ihn auch zu kritisieren, und kann sich dagegen nicht auf seine höhere Würde berufen. Hat er eine Würde zu wahren, die der Kritik nicht ausgesetzt werden soll, dann darf er dem Geistlichen nicht entsagen. (ebd., S. 173 – S. 174)

Klerikalismus und Laienkirche

Das Christentum ist von Christus einzig in Gestalt der Vermittlung göttlicher Hilfe durch menschliche Hilfsorgane und irdische Hilfsmittel gestiftet, also wie bereits gesagt, nur in Form der Sakraments-, der Autoritäts-, kurz der Priesterkirche.
Dies ist das Wesen der Kirche und somit auch des Christentums. Dies ist der Stein des Anstoßes für alle, die nach eigenem Recht, als Autonome ihren Weg selber einrichten wollen. Daher der Kampf gegen die Kirche, nicht bloß eine „Kirchentrennung“, wie man so unrichtig als nur möglich sagt, sondern die Trennung von der Kirche, die Leugnung der Kirche, die Bekämpfung der Kirche.
Mit dem Wort Priestertum ist auch der Begriff von Laientum gegeben, und diesen findet unsere Zeit (…) unerträglich und beleidigend. Das ist, wie ebenfalls bereits ausgeführt wurde, einfach das richtige Verständnis der Lehre Luthers vom allgemeinen Priestertum. Er wollte nicht alle zu Priestern machen, sondern alle Priester des Christentums entkleiden. Er wollte die „gereinigte Religion“ herstellen durch Ausmerzung aller privilegierten Stände. Ihm schwebte der Gedanke vor, daß die allgemeine Gleichheit, wie man jetzt sagt, die Demokratie im Christentum nur hergestellt werden könne, wenn der „Klerikalismus“ besiegt und unterworfen worden sei. Daraus ging ehemals der Kampf gegen das sogenannte Pfaffentum hervor. Daraus die Losung „Entklerikalisierung“. Daraus die Formel, unter der heute, im Zeitalter der allgemeinen Religions-Konstruktion, die von Luther angebahnte Bewegung ihre letzten Ziele verfolgt: „Der Klerikalismus kann wirksam nur bekämpft werden, wenn man die wesentlichen und ursprünglichen Elemente des Christentums scharf von ihm unterscheidet“, und so die Kirche oder wie Murri sich ausdrückt, „alle mittelalterlichen Elemente“ ausscheidet, bis nur mehr das „reine Christentum“ übrig bleibt.

Nach dem, was wir so eben gehört haben, verstehen wir nun klarer als früher, was alles geschehen musste, bis dieses Ziel erreichbar wurde. Erst haben die Orientalen nicht zwar die Kirche selber gespalten, wohl aber große Teile der Kirche von ihr los gerissen und diese Teile durch die Trennung versteinert. Dann hat die Reformation, der in diesem Stück der Gallikanismus vorbereitet hatte, die Kirche völlig geleugnet und an ihre Stelle eine Menge beschränkter menschlicher Surrogate gesetzt. Damit war dem Deismus, dem Rationalismus, dem Liberalismus und schließlich dem Erben von allen, dem Monismus, der Weg gebahnt, um all diese Trümmer hinweg zu räumen und das Reich der allgemeinen Laienreligion, wie man lieber sagt, der Humanitäts- oder Weltreligion aufzurichten.
Das einzige Mittel, um das Christentum zu vernichten, ist die Vernichtung der Kirche. Das Mittel, um die Kirche zu entthronen, ist die Einführung von Menschenkirchen. Von diesen bis zum reinen Menschentum ist dann nur noch ein Schritt. (ebd., S. 251 – S. 253) –
aus: Albert Maria Weiß, Liberalismus und Christentum, 1914

siehe auch den Beitrag: Umwandlung in eine Arbeitsreligion