Veränderung der Liturgie durch die Häretiker

4. Man darf sich nicht über den Widerspruch wundern, den die Häresie auf diese Weise in ihren Werken darbietet, wenn man wissen wird, daß das vierte Prinzip, oder, wenn man will, die vierte Notwendigkeit, welche den Sektierern durch die Natur ihres revolutionären Standpunktes selbst aufgelegt wurde, ein steter Widerspruch mit ihren eignen Prinzipien ist. Es muss so sein zu ihrer Beschämung an jenem großen Tage, welcher früher oder später kommt, wo Gott ihre Nacktheit im Angesicht der Völker, die sie verführt haben, enthüllt, und auch deswegen, weil es nicht in der Macht des Menschen steht, konsequent zu sein; die Wahrheit allein vermag es. Auf diese Weise fangen alle Sektierer ohne Ausnahme damit an, die Rechte des Altertums in Anspruch zu nehmen; sie wollen das Christentum von Allem, was der Irrtum und die Leidenschaften der Menschen Falsches und Gottes Unwürdiges damit vermischt haben, befreien; sie wollen nichts als Ursprüngliches, und geben vor, die christliche Einrichtung wieder bei der Wiege aufzunehmen. Zu diesem Zwecke räumen sie weg, löschen sie aus und schneiden sie ab; Alles fällt unter ihren Schlägen, und wenn man den Gottesdienst in seiner ersten Reinheit wieder erscheinen zu sehen vermeint, findet es sich, daß man mit neuen Formen überschüttet wird, die nur von gestern her datieren, unbezweifelbar menschliche sind, weil derjenige, welcher sie verfaßt hat, noch lebt. Jede Sekte unterliegt dieser Notwendigkeit; wir haben es gesehen bei den Monophysiten, bei den Nestorianern; wir finden die nämliche Erscheinung bei allen Zweigen der Protestanten. Ihre Sucht, das Altertum anzupreisen (siehe dazu den Beitrag: Pius XII. Altertumssucht in der Liturgie), hat nur dazu geführt, sie in den Stand zu setzen, in die ganze Vergangenheit Bresche zu schießen, und dann haben sie sich vor die verführten Völker hin gestellt, und ihnen geschworen, daß Alles wohl stünde; daß die papistischen Überschwänglichkeiten verschwunden, und der Gottesdienst zu seiner ursprünglichen Heiligkeit zurückgekehrt sei. Bemerken wir noch einen weiteren charakteristischen Zug in der Veränderung der Liturgie durch die Häretiker! Sie begnügen sich nämlich bei ihrer Neuerungswut nicht, die Formeln im Kirchenstil, welche sie mit dem Namen Menschenwort brandmarken, auszumerzen, sondern ihre Verwerfung auch sogar auf die Lektionen und Gebete auszudehnen, welche die Kirche der Schrift entlehnt hat; sie verändern, substituieren, indem sie nicht mit der Kirche beten wollen, sich somit selber exkommunizieren, und sich auch vor dem geringsten Teilchen der Orthodoxie fürchten, welches die Wahl dieser Stellen veranlaßt hat.

5. Nachdem die Reform der Liturgie von den Sektierern zu demselben Zwecke unternommen war, wie die Reform des Dogmas, deren Konsequenz sie ist, so folgte daraus, daß die Protestanten, so wie sie sich von der Einheit trennten, um weniger zu glauben, sich dahin geführt sahen, in dem Kultus alle jene Zeremonien, alle jene Formen zu beseitigen, welche Mysterien ausdrücken. Sie erklärten Alles für Aberglauben, für Abgötterei, was ihnen nicht ganz vernunftgemäß schien, schränkten auf diese Weise die Ausdrücke des Glaubens ein, und verstopften durch den Zweifel, und selbst durch die Verneinung alle Wege, welche nach der übernatürlichen Welt offen stehen. Daher gab es keine Sakramente mehr, außer die Taufe, in Erwartung des Sozinianismus, welcher seine Adepten auch davon befreien wird; keine Sakramentalien, Benediktionen, Bilder, Heiligen-Reliquien, Prozessionen, Wallfahrten u. s. w. mehr. Es gibt keinen Altar mehr, sondern bloß einen Tisch; kein Opfer mehr, wie in jeder Religion, sondern nur ein Abendmahl; keine Kirche mehr, sondern nur einen Tempel, wie bei den Griechen und Römern; keine religiöse Baukunst mehr, weil es an den Geheimnissen fehlt; keine christliche Malerei und Bildhauerei, weil es keine sinnliche Religion mehr gibt; endlich keine Poesie mehr in einem Kultus, welcher weder von der Liebe, noch von dem Glauben befruchtet ist.

8. Da die liturgische Reform die Abschaffung der mystischen Akte und Formeln als einen ihrer vorzüglichsten Zwecke ansah, so folgte notwendig, daß ihre Urheber den Gebrauch der Volkssprache für den Gottesdienst wieder in Anspruch nehmen mussten. Dies ist ebenfalls einer der Hauptpunkte in den Augen der Sektierer. Der Kultus, sagen sie, ist nichts Geheimes; das Volk muss verstehen, was es singt. Der Haß gegen die lateinische Sprache ist dem Herzen aller Feinde Roms angeboren; sie sehen in ihr das Band der Katholiken auf dem Erdkreise, das Arsenal der Rechtgläubigkeit gegen alle Subtilitäten des Sektengeistes, die mächtigste Waffe des Papsttums.

aus: Prosper Gueranger, Geschichte der Liturgie, 1854, S. 413-415