1. Brief an die Korinther Kap. 6 Vers 1-9
Prozesse von Christen vor heidnischen Richtern
Paulus hat die Korinther an ihre Pflicht gemahnt, über den Blutschänder innerhalb der Gemeinde ein strenges Gericht zu verhängen, dagegen das Gericht über die Außenstehenden dem gerechten Gott zu überlassen. Das gibt ihm Anlass, gleich einen andern sittlichen Übelstand zu tadeln und das, was er weiter über die herrschende Unzucht zu sagen hat (6, 12-20), vorerst zurück zu stellen. Dieselben Korinther, die gegenüber dem schändlichen Treiben des vorhin erwähnten Christen so sehr duldsam sind, rufen in andern Punkten gleich nach dem Richter. Eine üble Prozesssucht hat sie erfaßt. Wenn ein Rechtsstreit unter ihnen entsteht, verklagt einer den andern, und zwar vor der heidnischen Gerichtsbehörde. „Ungerechte“ nennt der Apostel die Heiden; denn wie kann jemand gerecht sein, der Gottes Gesetz weder kennt noch anerkennt? Welche Torheit ist es also, sein Recht bei Ungerechten zu suchen, statt bei den „Heiligen“, das heißt bei den christlichen Mitbrüdern, die durch die Taufe geheiligt und in der Lebensgemeinschaft mit Christus zur persönlichen Heiligkeit berufen sind.
Aber nicht nur unklug ist ein derartiges Vorgehen, sondern ebenso ungehörig, sittlich verwerflich. Es verrät einen betrüblichen Mangel an rechter Einschätzung des Christenstandes unter einander und vor den Heiden. Um die Schärfe im Urteil des Apostels, wie sie aus den erregten. Kurzen Fragen an die Leser heraus klingt, besser zu verstehen, müssen wir beachten, daß die Juden damals vielerorts in der Diaspora eigene Gerichtsbarkeit hatten, also ihre Prozesse über innerjüdische Fragen nicht vor heidnische Richter zu bringen brauchten. Gerade in Korinth hatte einige Jahre vorher der Statthalter Gallio die Juden an ihre eigenen Gerichte verwiesen, als sie Paulus bei ihm anklagen wollten (Apg. 18, 12-17). Die Rabbiner wachten eifersüchtig über die Erhaltung und Benutzung dieses Privilegs. Als Grund gaben sie an: Wer vor Heiden Prozesse führt, „gibt den Außenstehenden Anlass zu der (ironischen) Bemerkung: Schau, wie einig die Verehrer des wahren Gottes sind.“ Die Christen wurden aber von den meisten Heiden als eine jüdische Sekte betrachtet. Für sie galt es also ebenfalls, jeden unnötigen Anstoß bei den Heiden zu vermeiden.
Doch Paulus geht auf diesen Gedanken nicht näher ein, appelliert vielmehr an das christliche Selbstbewusstsein und erinnert die Leser an eine Wahrheit, die sie aus der religiösen Unterweisung kennen mussten: „Die Heiligen werden die Welt richten.“ Schon im Alten Bund war dieses Amt den Auserwählten in Aussicht gestellt worden (Dan. 7, 9ff; Weish. 3, 8). Jesus hatte es auf die Seinigen übertragen (Matth. 19, 28; Luk. 22, 30). In dieser Entscheidung des Weltgerichts wird das bedeutungsvollste Urteil des ewigen Richters gefällt. Wenn also die Christen dafür einst zuständig sein sollen, um wieviel mehr für die Kleinigkeiten, um die es sich bei ihren Prozessen untereinander zu handeln pflegt.
Nicht nur die Welt, die Erdenbürger, werden von den Jüngern Christi in Gemeinschaft mit ihrem Herrn gerichtet werden, sondern sogar die Engel. Das von Gott über die guten und bösen Engel gefällte Urteil wird beim Endgericht durch Christus und die Seinen feierlich proklamiert und so die göttliche Gerechtigkeit in ihrer ganzen Herrlichkeit offenbart werden. Wer aber über himmlische Geistwesen zu Gericht sitzt, soll der unfähig sein, die alltäglichen Bagatellen, die „Brotfragen“ nennt sie der Urtext, zu entscheiden? Die verneinende Antwort auf diese Frage ist wahrlich nicht schwer zu geben.
Und doch ist das unbegreifliche Verhalten der Korinther eine Antwort im bejahenden Sinn. Sie bringen ihre kaum nennenswerten Rechtshändel vor heidnische Richter, also vor Menschen, die in der Gemeinde gar kein Ansehen genießen. Das ist ein beschämendes Armutszeugnis, das sie sich selbst ausstellen. Sie geben nämlich damit zu, dass unter ihnen kein einziger klug und erfahren genug ist, um als Schiedsrichter einen noch so belanglosen Streit zwischen christlichen Mitbrüdern zu schlichten. Statt dessen verwickelt einer den andern in Prozesse und läßt sie von den Ungläubigen entscheiden. Wie weit ist es doch bei den sonst so stolzen Korinthern gekommen!
Vom Geist des echten Christentums fehlt ihnen noch vieles; denn der Geist Christi offenbart sich darin, daß einer lieber Unrecht erleidet, sich lieber übervorteilen und berauben läßt, als dass er in liebloser Weise den kalten Rechtsstandpunkt vertritt. So hat es der Meister den Seinen in der Bergpredigt empfohlen (Matth. 5, 38-48). Nicht die Paragraphen des Gesetzes sollen die Gemeinschaft seiner Jünger ordnen, sonst unterscheiden sich Christen und Heiden nicht von einander. Das weithin sichtbare und untrügliche Merkmal der Jesusjünger soll die selbstlose Liebe sein, die nicht mit Petrus nach der Grenze des Verzeihens fragt, vielmehr gar keine Grenzen kennt. So ist also die bloße Tatsache, dass es überhaupt Prozesse gibt, eine betrübliche Erscheinung im christlichen Lebend er Korinther, ganz abgesehen von dem Austragen vor heidnischen Richtern.
Über den zeitgeschichtlichen Rahmen hinaus gewinnen diese ernsten Mahnworte überzeitliche Bedeutung und liefern dadurch einen neuen Beweis für die hohe Kunst des Völkerapostels, scheinbar rein lokale Dinge in ihren tiefsten Zusammenhängen zu schauen und aus dem Nächstliegenden Brücken zum Ewigen zu schlagen. Der Appell an das christliche Ehrgefühl und an den Familiengeist unter den Christen ist auch hier verbunden mit sittlichen Höchstforderungen.
Wir haben, nachdem wir durch die Schule Christi gegangen sind, besondere Verpflichtungen gegen unsere andersgläubigen Mitmenschen. Sie dürfen von uns erwarten, dass wir ihnen Vorbild sind und dass unser Leben der Spiegel unseres Glaubens ist. Sie sehen mit Recht kein Zeichen eines Achtung gebietenden Standesbewusstseins darin, wenn Katholiken die innersten Angelegenheiten des kirchlichen Lebens, besonders diese und jene Übelstände, vor die gesamte Öffentlichkeit zerren und ihrer Kritiksucht in den gegnerischen Blättern Ausdruck geben. Gegen solche „Brüder“ fände wohl Paulus noch viel schärfere Worte als gegen die Prozesssüchtigen in Korinth.
Aber es bleibt nicht einmal bei diesem Mangel an ernstem Streben nach dem Ideal. Die Korinther verüben selber Unrecht und Raub, und zwar untereinander. Ichsucht, rücksichtsloser Eigennutz und schmutzige Habgier zerreißen das Band brüderlicher Liebe, das alle als Kinder der Gottesfamilie umschlingen müsste. Wenn der einzelne um jeden Preis sein Recht gegen den anderen durchsetzt, wird er bald auch die Linie des Rechts überschreiten und mehr als sein Recht suchen. Wo man um Rechte streitet, stirbt die Liebe. Diese alte Erfahrung bestätigt sich in Korinth. Dadurch setzen sich aber die Christen der größten Gefahr aus, die es überhaupt gibt: Als Ungerechte verlieren sie das Anrecht auf das Reich Gottes, also gerade auf das, wozu sie Gott aus Gnade berufen hat. Sie fallen in den Zustand zurück, aus dem sie durch die Erlösung Christi befreit worden sind. Das müssten sie aus der christlichen Unterweisung wissen. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 202 – S. 204