1. Brief an die Korinther Kap. 6 Vers 9-11
Warnung des Apostels Paulus vor Selbsttäuschung
Die Urkirche begnügte sich bei dem Unterricht ihrer neu gewonnenen Mitglieder nicht mit einigen dogmatischen Lehrsätzen. In ihrem „Katechismus“ waren auch bestimmte moralische Anweisungen enthalten. Sie forderte ein sittenreines Leben. Auf sittliche Erneuerung des Lebenswandels hatte schon der Vorläufer Christi ins einer Bußpredigt am Jordan starken Nachdruck gelegt. Jesus hatte nicht minder streng darauf gesehen, dass einer nicht nur die Wahrheit erkennt, sondern „die Wahrheit tut“ (Joh. 3, 21; Matth. 7, 20ff).
Nicht alle Christen in Korinth haben dieser sittlichen Grundforderung gebührende Beachtung geschenkt. Der Hinweis auf den barmherzigen Gott scheint ihnen als Deckmantel ihrer laxen Moral gedient zu haben. Vor dieser Selbsttäuschung warnt deshalb der Apostel. Als verantwortlicher Lehrer und Führer schärft er allen das Gewissen, indem er den Begriff „Ungerechte“ zergliedert. Nicht weniger als zehn Sünden zählt er auf, von denen jede einzelne genügt, um den Täter vom ewigenLeben im Reich Gottes auszuschließen. Sechs von diesen Lastern, die wir alle als „Todsünden“ oder „schwere Sünden“ bewerten müssen, werden schon im vorigen Kapitel (5,11) genannt. Wir haben es an beiden Stellen mit sogenannten „Lasterkatalogen“ zu tun, die sich öfter im Neuen Testament finden (Gal. 5, 19-21; Röm. 1, 26-31; 13, 13; 1. Tim. 1, 9-10).
An keiner Stelle ist Vollständigkeit beabsichtigt, sondern es wird auf die gegebenen Verhältnisse Rücksicht genommen. Deshalb ist es für den, der die damaligen Zustände in Korinth kennt, nicht zu verwundern, dass hier nicht weniger als vier oder gar fünf von den zehn Sünden Vergehen gegen die Keuschheit darstellen. Ein schauerliches Gemälde jener „Kultur“, deren „Schönheit und Kraft“ unserer Zeit in Bild und Wort als Ideal hingestellt worden ist! Auffallend ist, dass mitten zwischen den Sünden gegen das sechste Gebot der Götzendienst genannt wird. Auf die Götzendiener folgen die Ehebrecher. Zwar ist es durchaus der biblischen Sprache angepaßt, den Götzendienst einen Ehebruch gegen Gott zu nennen, weil die Seele zu ihrem Gott in einem bräutlichen Verhältnis steht. Doch dürfte Paulus weniger daran gedacht als an die Tatsache, dass gerade in Korinth der Kult der Aphrodite mit schamloser Unzucht verbunden war. Wo das sechste Gebot Gottes sogar durch widernatürliche Laster übertreten wird, steht es in der Regel auch mit der Mäßigkeit sowie der Achtung vor dem guten Namen und dem Eigentum des Nächsten schlecht. Venus und Bacchus sind nicht nur in der Sage Kinder desselben Vaters. Zu ihrem Gefolge gehören Lüge und Gewalttat.
Sind das alles Wahrheiten, die für die Korinther nur theoretisch von Belang wären? Es ist ihr eigenes Bild. Aber indem Paulus ernst und feierlich erklären will: „Und Leute dieser Art seid ihr gewesen“, hält er inne. Mit einer Feinheit, die sich in der Übersetzung kaum wiedergeben läßt, verrät der griechische Urtext, wie der Apostel beim Diktieren stockt und dem Urteil, ehe er es vollendet, seine verletzende Schärfe nimmt, indem er es auf einige beschränkt. Aber auch diese gehören jetzt nicht mehr in die Reihe der eben genannten Lasterhaften. Sie alle haben an sich eine innere Umwandlung erfahren. Was Paulus davon sagt, bildet einen herrlichen Schlusssatz zu der voraus gegangenen Ermahnung. Er bleibt nicht im Tadeln und Kritisieren stecken. Selbst an den ehemaligen Sündern weiß er Gutes zu finden. Wie wirksam wird da das Einst und Jetzt, der alte Mensch der Sünde und der neue Mensch der Gnade gegenüber gestellt, der Unerlöste und der Erlöste.
Ganz kurz und dennoch erschöpfend ist der Rechtfertigungs-Prozess geschildert mit dem Hinweis auf das Rechtfertigungs-Mittel und der Rechtfertigungs-Ursache. (siehe dazu auch den Beitrag: Konzil von Trient: Über die Rechtfertigung) Zwei Pole wirken zusammen, ein negativer und ein positiver, keiner vom andern zu trennen und doch nicht in eins zusammen fallend. Die Abwaschung, also die völlige Reinigung von der Sünde, ist das erste. Sie geschah im Bad der Taufe. Als aber der Täufling aus dem Wasser empor stieg, war er nicht nur rein, sondern hatte auch ein ganz neues Leben erhalten. „Durch die Taufe wurden wir mit Christus begraben auf den Tod. Wie aber Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferstanden ist, so sollen auch wir ein neues Leben führen“ (Röm. 6, 4) Wir erleben die Wiedergeburt in der Übernatur, wurden geheiligt.
Beides zusammen, die Reinigung von Sünde und die Heiligung im neuen Leben, bilden die Rechtfertigung. Gott hat nicht bloß etwas in uns zugedeckt, um es nicht mehr anzurechnen, er hat etwas fortgenommen und zugleich etwas geschenkt, indem er uns umwandelte durch den Namen seines eingeborenen Sohnes und durch die Kraft des Heiligen Geistes. Diese Rechtfertigung des Apostels trifft vollkommen zusammen mit der Lehre des Meisters über die Wiedergeburt (Joh. 3, 3ff). Wie kleinlich musste den Korinthern ihr Prozessieren um Alltäglichkeiten erscheinen, wenn sie an das Große dachten, das Gott an ihnen, den Sündern, getan hatte um Christi willen. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 204 – S. 206