1. Brief an die Korinther Kap. 6 Vers 12-17

Die Sünde der Unzucht ist ein Frevel gegen Christus

Paulus hat begeistert den Reichtum des christlichen Gnadenstandes geschildert. Wer einmal zutiefst von der Erkenntnis dieses Adels durchdrungen ist, wird alles aufbieten, um nicht in die alte Knechtschaft der Sünde zurück zu fallen, sondern mit Christus im neuen Leben zu wandeln. Das wäre das Ideal. Leider fehlte in der korinthischen Gemeinde noch vieles an seiner Verwirklichung. Die dortigen Christen wußten zwar um den großen Wandel in ihrem Leben, aber manche zogen daraus eine gefährliche Folgerung. In dem Hochgefühl des Glaubens dünkten sie sich frei von jeder Bindung an ein strenges Gesetz. Sie verwechselten Freiheit mit Ungebundenheit.

Nachdem das jüdische Zeremonialgesetz seine Verpflichtung eingebüßt hatte, meinten sie auch vom altbundlichen Sittengesetz unabhängig zu sein, vor allem vom sechsten und neunten Gebot. „Freiheit der Kinder Gottes“ beanspruchten sie. Wer da noch von Sünde rede, verrate, dass er noch von den früheren Vorurteilen befangen sei und in den beengenden Fesseln des unerlösten Menschen stecke. Den Reinen sei alles rein. Habe nicht Paulus selbst erklärt: „Alles ist euer“ (1. Kor. 3, 21)? Den Brüdern in Galatien hatte er geschrieben: „Wenn ihr euch vom Geist leiten laßt, steht ihr nicht mehr unter dem Gesetz“ (Gal. 5, 18). Solche Worte deuteten sie in ihrem Sinn, wobei die Anschauungen griechischer Philosophen aus der Schule der Zyniker und einzelner Stoiker nachwirkten. In geschlechtlichen Dingen kannten sie kaum Hemmungen. Paulus legte diesen korinthischen Libertinisten mit ebenso großem Ernst wie rückhaltloser Offenheit dar, wie ein Christ über die Unzuchtsünde zu urteilen hat: Sie ist ein Frevel gegen Christus (Vers 12-17) und eine Schändung des eigenen Leibes (Vers 18-20).

Was der Apostel da sagt und wie er es sagt, ist so gegenwartsnahe, dass man diese Verse immer wieder all denen ins Gedächtnis rufen und zu bedenken geben möchte, die in unserer sexual überreizten und zugleich im züchtigen Schamgefühl abgestumpften Zeit den gleichen Standpunkt vertreten wie jene Korinther. Schlagworte wie „Freie Liebe“, „Recht auf den Körper“, „Stimme des Blutes“, „Gesunder Naturtrieb“ und die endlosen Variationen dieses Leitmotivs klingen den korinthischen Losungen zum Verwechseln ähnlich. Der Apostel greift die Parole der Korinther auf: „Alles ist mir erlaubt!“ Gut, sagt er, aber vergeßt nicht, dass „nicht alles frommt“. Es genügt durchaus nicht, dass eine Handlung an und für sich erlaubt ist. Eine in sich gleichgültige oder sogar gute Handlung kann durch die Begleitumstände unerlaubt werden und mir oder andern sittlichen Schaden bringen. Die Parole gilt also nicht unbeschränkt.

Gewiß genießt der Christ die Freiheit der Gotteskinder. Aber gerade die wahre Freiheit fordert Wachsamkeit. Es gibt Dinge, die der Mensch meiden muss, um seine Freiheit zu wahren, am meisten auf dem Gebiet des Sexuallebens. Läßt er den Trieben die Zügel schießen, so wird er bald nicht mehr Herr im eigenen Hause sein, vielmehr ein Sklave seiner Sinne werden, denn „wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht“ (Joh. 8, 34). So schlägt Paulus die Verteidiger der Unzucht mit ihren eigenen Waffen. Wer als Christ mit dem Hinweis auf die Erlösung sich alles gestatten zu dürfen glaubt, verkennt die Religion des Kreuzes und vergißt, dass Christus selbst seine Nachfolge an Selbstverleugnung und tägliches Aufnehmen des Kreuzes geknüpft hat.

Doch die korinthischen Freiheitsschwärmer geben sich noch nicht besiegt. Mit sophistischer Beweisführung wollen sie dartun, dass die Unzucht etwas rein Natürliches, also sittlich Belangloses sei, ähnlich wie Speise und Trank. Sie stellen den Geschlechtstrieb auf eine Stufe mit dem Nahrungstrieb. Gewiß sind beide vom Schöpfer in die Menschennatur hineingelegt, der ein zur Erhaltung des Einzelmenschen, der andere zur Erhaltung der Menschheit. Beide müssen, nachdem die Sünde Unordnung hinein gebracht hat, gezügelt werden durch Selbstbeherrschung. Gott hat das durch die Speisegesetze und das Verbot der Unzucht im Alten Bund geregelt. (siehe auch den Beitrag: Ketzer leugnen die Unkeuschheit als eine Todsünde)

Nun scheinen die betreffenden Christen in Korinth folgende Schlussfolgerung gezogen zu haben: Die mosaischen Speisegesetze gelten nicht mehr im Christentum. Wir dürfen essen, was den Juden als unrein verboten war. Ebenso fallen also auch die Beschränkungen im Bereich des Sexualtriebes für den wahren Christen fort. Beides bezieht sich ja auf den Leib des Menschen. Diesem gefahrvollen Irrtum tritt der Apostel entgegen. Die behauptete Gleichheit besteht nicht. Speisen und Verdauungsorgane, die im jenseitigen Leben außer Funktion treten, habe keine unmittelbare Hinordnung auf Christus und sein Reich. Man darf sie deshalb nicht mit dem Menschenleib als Ganzes verwechseln, der vom Schöpfer mit der Kraft der Fortpflanzung ausgestattet worden ist.

Der beseelte Menschenleib ist ins Erlösungs-Geheimnis hinein bezogen. Er hat noch viel höhere Aufgaben zu erfüllen, als die Erhaltung des Geschlechtes zu sichern. Sonst dürfte ja kein Mensch sich dieser Aufgabe entziehen. Christus aber hat den freiwilligen Verzicht auf jegliche Aktivierung der sexualen Anlage um des Himmelreiches willen als das Ideal gepriesen. Wer es erstrebt, stellt sich mit Leib und Seele ungeteilt in den Dienst Christi: in der mystischen Einheit des Erlösten mit dem Erlöser wird Christus zu unserem Haupt. Er gehört also in gewissem Sinn zu unserem Leib, wie unser Leib zu ihm gehört. Wie nun Gott die Menschennatur seines eingeborenen Sohnes nicht wollte im Grab verwesen lassen, so wird er in seiner Allmacht auch uns dereinst auferwecken. „Christus wird unsern hinfälligen Leib umwandeln, so dass er seinem glorreichen Leib gleich gestaltet wird durch die Macht, mit der er sich das All zu unterwerfen vermag“ (Phil. 3, 21). Wer das bedenkt, wird erkennen, welcher Fehlschluss es ist, zu sagen: Wie ich als Christ essen darf, was mir schmeckt, so brauche ich mir auch keine Skrupel zu machen in den Dingen, die das sechste Gebot betreffen.

Paulus hat seinen Lieblingsgedanken anklingen lassen: die Lebensgemeinschaft mit Christus, das Sein des Christen in Christus. Daraus leitet er nun eine Warnung vor der Unzucht ab, wie sie schärfer und theologisch tiefer nirgendwo in der gesamten religiösen Literatur zu finden ist. Durch unser Einswerden mit Christus in der Taufe ist unser Leib in den mystischen Organismus des Leibes Christi eingegliedert worden. Alles ist unser geworden, was Christus besitzt, aber ebenso sind wir selbst ganz Christi Eigentum geworden (1. Kor. 3, 23).

Der Unzüchtige zerreißt die Lebenseinheit seines Leibes mit Christus. Er verfügt eigenmächtig darüber, „nimmt ein Glied Christi weg“ und gibt es in der Sünde einer Buhlerin zu eigen. Das ist ein wahres Sakrileg, so häßlich, dass Paulus nur in Frageform davon sprechen mag. Mit einem entrüsteten „Nimmermehr“ weist er den Gedanken ab, ein Christ dürfe sich so weit vergessen. Keiner entgegne, es handle sich bei der Sünde zweier Menschen gegen die Keuschheit nur um eine äußerliche Zusammengehörigkeit, wodurch die Seelengemeinschaft mit Christus nicht berührt werde.

Gott hat in der Heiligen Schrift selbst erklärt, und Christus hat es den Juden erneut eingeschärft, dass es keine engere Gemeinschaft zwischen zwei Menschen gibt als dieses leibliche Einswerden. Darum kommt darin die tiefste Erniedrigung zum Ausdruck, wenn es sich nicht um die geheiligte Hingabe an den Dienst des Schöpfers in gottgewollter Ehe handelt, sondern um die Sklaverei des Fleisches, in der das Geistige untergeht. Das ist eines Menschen unwürdig, der mit Christus und in Christus zur höchsten Vergeistigung berufen wurde, so dass er mit dem himmlischen Herrn ein einziger Geist wird, das gleiche Leben der Übernatur lebt. Je enger seine Vereinigung mit dem verklärten Christus ist, umso freier kann sich das Geistige in ihm entfalten. Aus dieser Wahrheit erwächst naturnotwendig die Bewertung der vollkommenen Keuschheit und gottgeweihten Jungfräulichkeit in der Lehre Christi:

Die „Braut Christi“ darf mit der hl. Agnes sprechen: „Liebe ich ihn, so bleibe ich keusch; berühre ich ihn, so bleibe ich rein; nehme ich ihn auf, so bleibe ich Jungfrau.“ Der Geist Christi ist ihr Geist geworden, weil all ihr Denken und Wollen mit Christus im Einklang steht, wahrhaft „christlich“ ist. Dieser Geist „läßt auch die Sinne erleuchtet sein“, dass alles niedrige Verlangen ausgeschaltet wird und nichts der gänzlichen Vereinigung im Wege steht, wie sie mystisch begnadete Seelen erleben. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 206 – S. 209