1. Brief an die Korinther Kap. 6 Vers 18-20

In der Unzucht liegt eine besondere Bosheit

Wie man vor einer häßlichen Giftschlange flieht, so sollen darum die Christen vor der Unzucht und der Gelegenheit dazu fliehen. Wie Paulus vorher forderte: „Schafft den Übeltäter fort aus eurem Kreis“, und nicht: „Ertragt in Geduld und Milde den Blutschänder“, so mahnt er hier nicht: „Kämpft gegen die Unzucht“, sondern: „Flieht die Unzucht“. Gerade diese Sünde weiß in verlockender Gestalt an den Menschen heran zu treten und findet Bundesgenossen in der Menschenbrust selbst.

Was das Alte Testament in der Geschichte des ägyptischen Joseph sowie der keuschen Susanna lehrt, ist im Mythos und in der Legende aller Zeiten als sittliches Erbgut der Menschheit festzustellen. Der lockende Sang der Sirenen, die Versuchungen des hl. Einsiedlers Antonius in der Wüste und die vielen Versuchungs-Geschichten in der Literatur von Parsifal bis zum Gretchen im Faust, alles ist eine Variation desselben Motivs: Nur die Flucht der Gelegenheit rettet das Kleinod der Keuschheit. Spielt einer mit der Versuchung oder setzt sich mit ihr auseinander, so wird es ihm gehen wie Eva, die mit der Schlange diskutierte, bis „sie sah, dass der Baum gut sei zum Essen und eine Lust zum Anschauen und eine Annehmlichkeit zum Betrachten; da nahm sie von seiner Frucht und aß“ (1. Mos. 3, 6)

In der Unzucht liegt eine besondere Bosheit; denn sie schändet den Menschenleib mehr als jedes andere Vergehen, mehr auch als Trunksucht. Das Tierische, Triebhafte gewinnt über die geistigen Anlagen Gewalt. Schändung des eigenen Leibes ist aber beim Christen gleichbedeutend mit Tempelschändung; denn sein Leib ist eine Wohnstätte des Heiligen Geistes. Das Bild vom Gottestempel, das früher (3, 16-17) von der ganzen christlichen Gemeinde gebraucht wurde, ist hier von jedem einzelnen Gläubigen zu verstehen. Dort wurde vor Zank und Streit gewarnt, weil sie die Einheit gefährden und den Tempel zerstören. Hier wird die Unzucht als Frevel am Heiligtum des Menschenleibes gebrandmarkt. Gott der Vater hat den Tempel gebaut und ihm die höchste Weihe gegeben, indem er uns seinen Geist sandte, damit er nicht nur gelegentlich und vorübergehend mit uns sei, sondern ständig in uns bleibe, solange wir sein Wohnen in uns nicht freventlich durch die Sünde unmöglich machen.

„Tempelhüterin und Oberpriesterin in diesem Tempel ist die Keuschheit. Sie duldet nicht, dass etwas Unreines oder Gemeines hinein kommt, damit Gott, der darinnen wohnt, nicht wegen der Beleidigung den entweihten Thron verläßt“ (Tertullian). Ein neuer Besitztitel Gottes auf uns tritt hinzu und damit ein neuer Grund zur Flucht vor der Unzucht: Wir gehören gar nicht mehr uns selber an, seitdem das Blut des Mensch gewordenen Gottessohnes als Lösepreis für uns gezahlt worden ist.

Wer also eigenmächtig über seinen Leib verfügt und in der Unzucht sein vermeintliches „Recht auf den Körper“ geltend macht, vergreift sich an etwas, was Gott zu eigen gehört. Er begeht Gottesraub. Um den Vollsinn dieses Gedankens, den auch der Apostel Petrus verwendet (1. Petr. 1, 18-19), zu verstehen, müssen wir auf eine Sitte jener Zeit achten: Einem Sklaven konnte auf verschiedene Weise die Freiheit geschenkt werden. Besonders feierlich geschah es, indem sein Herr ihn an eine Gottheit verkaufte. Der Herr erhielt aus der Tempelkasse den Lösepreis; der Sklave aber galt fortan als Schützling und Eigenbesitz des betreffenden Gottes. Eine feierliche Urkunde wurde über den Kaufvertrag aufgenommen und von Zeugen unterschrieben. Das wendet Paulus auf unser Verhältnis zu Christus an und gebraucht dabei die Rechtsausdrücke, wie sie in solchen Urkunden vorkommen. Wir alle waren durch die Sünde Sklaven Satans.

Christus hat uns ins einem Kreuzestod durchs ein Blut frei gemacht und für sich erkauft. Es ist also Undank und Unrecht zugleich, von neuem sich der Sklaverei des Teufels durch Unzucht auszuliefern. Alljährlich erinnert uns das Fest des kostbaren Blutes Christi daran und verwendet diesen Vers in den liturgischen Texten. Einem Christen liegt die Doppelpflicht ob, nicht nur seine Seele, sondern auch seinen Leib in den Dienst Gottes zu stellen, um so in seiner Ganzheit als Leib-Geist-Wesen seinen Schöpfer und Erlöser zu verherrlichen.

Eine erhabenere Auffassung von der Würde des Menschenleibes gibt es nicht. Vor diesen Paulusworten müssen alle Vorwürfe verstummen, die Religion Jesu verachte den Leib. Wenn sich bei dem einen oder andern Schriftsteller Ausdrücke finden, in denen der Leib als etwas Schlechtes bezeichnet wird, so ist das entweder als manichäische Verirrung abzulehnen; oder aber es handelt sich um missverstandene Mahnungen zum Kampf gegen das ungeordnete Triebleben im sündigen Menschen. Auch Paulus hat seinen „Leib gezüchtigt und ihn zur Botmäßigkeit gebracht“ (1. Kor. 9, 27), um dem Geistigen, der unsterblichen Seele, die Führerrolle zu sichern. Aber er hielt den Menschenleib selbst nicht für etwas Böses oder Niedriges. Von hier aus läßt sich eine wahrhaft christliche Körperpflege und Sportethik begründen.

Ein Tempel des Heiligen Geistes fordert Ehrfurcht. Ihn verfallen oder im Schmutz erstarren zu lassen, ist eher ein Zeichen von Faulheit und mangelnder Selbstachtung als von Tugend. Wenn aber die Pflege und Kräftigung des Körpers auf Kosten der Seele geht und der Gottestempel zum Tummelplatz entfesselter Triebe wird, müsste sich die Maßnahme des Polykrates wiederholen, der als weit schauender Staatsmann die Stadien und Ringschulen Griechenlands schließen ließ, um die Jugend vor dem sittlichen Ruin zu retten. Nicht weil er den Menschenleib für etwas wesenhaft Verdorbenes und Sündiges ansah, hat Paulus zum Kampf gegen die Triebe aufgerufen, sondern weil er die Folgen der Erbsünde kannte und die Neigung des gefallenen Menschen zum Bösen. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 209 – S. 210