Liberalismus und Reformkatholizismus
Der Anfang der Zerstörung der christlichen Heilsordnung
Das sicherste Mittel zur Abhilfe in dieser Lage ist das Leben nach dem Geiste Jesu Christi, der uns lehrt, Natürliches und Übernatürliches mit gleicher Gewissenhaftigkeit zu ehren, Gott zu geben, was Gottes, dem Kaiser, was des Kaisers ist. Das ist die wahre katholische Religion, die uns kräftigt, alle irdischen Pflichten so zu erfüllen, daß sie ein wahrer Gottesdienst und ein Mittel zur Erreichung des ewigen Lebens werden, über diese hinaus aber Herz und Geist und Tat beständig auf jene Welt gerichtet zu halten, die unsere wahre, ewige Heimat ist. Die Vereinigung dieser beiden Aufgaben ist das ganze, das allgemeine, das wahrhaft katholische Christentum, die unversehrte christliche Heilsordnung, durch deren treue Befolgung jeder für sich selber das Heil findet und anderen den Weg zum Heile weist.
Hoffentlich dient diese Erwägung dazu, jeden der Überzeugung zugänglich zu machen, daß auch die kleinste Bresche, die in das Gebäude der Kirche gebrochen wird, ein Verbrechen gegen den Herrn, den Stifter dieser Kirche ist, und daß jeder Versuch zu einer Ausscheidung, zu einer Milderung, zu einer zeitgemäßeren Gestaltung der Anfang zur Zerstörung der christlichen Heilsordnung ist. Wenn alle Katholiken sich auf dieses Bekenntnis einigen, dann hat kein Liberalismus mehr Platz in ihren Reihen.
Aber mancher mag sich verwundert fragen, wo denn die leben mögen, deren Aufgabe es wäre, die Christen, die so vielen Verführungen preisgegeben sind, zu warnen, und die Irregeführten in einer so verhängnisvollen Lage den rechten Weg zu weisen… Wir wollen lieber die Aufforderung an alle Christen richten, sich in diesem Stück als schuldig anzuklagen. Einem jeden hat Gott die Sorge um seinen Nächsten auf die Seele gebunden (Ekkl. 17,12). Stellten wir uns mit mehr Mut und Entschiedenheit der Ausbreitung des Irrtums entgegen, erklärten wir der Welt lauter und immer und immer wieder die echte Wahrheit, es wäre doch nicht ganz ohne Frucht. So vollständig unzugänglich für Gottes Wort sind denn doch die Menschen nicht. Wenn ihnen aber niemand entgegen tritt, dann gehen sie mit der großen Menge, nicht wissend, was sie tun.
Und was bedürfte es denn, um ihnen Hilfe zu bringen? Zuletzt kommt es ja doch nur darauf an, daß man ihnen klar mache, was die Lehre vom Übernatürlichen sagen will. Gott ist Herr der ganzen Welt mit allem, was sie treibt. Christus ist Erlöser für alle Menschen und alle Zeiten, und alle sind verloren, die nicht durch ihn gerettet werden. Der Mensch, alle zusammen und jeder im besonderen, ist verpflichtet, nach dem ewigen Ziel zu streben und alle seine Tätigkeit, die persönliche wie die öffentliche, auf dieses hin zu richten. Das Mittel, um uns vor dem Verderben, den Folgen der Sünde zu retten, und uns und der Welt die Kraft zur Erreichung des letzten Zieles zu verschaffen, ist die Stiftung des Herrn, das Christentum, wie wir sagen, d. h. die Kirche, wie sich der Herr ausdrückt, denn er kennt weder das Wort Christentum noch das Wort Religion.
Das sind alles keine Lehren, die über Menschenfassung hinausgehen. Nein, die Wahrheit ist von Gott so eingerichtet, daß sie allen zugänglich ist. Er hätte ja sonst nicht das Heil davon abhängig machen können. Es handelt sich nur darum, daß sie immer wieder gepredigt werde, gelegen oder ungelegen, und am allermeisten dann, wenn sie ungelegen erscheint. Und gesetzt, es sei einer außerstande, diese Sätze im einzelnen auszuführen, so genügt es, wenn er sagt: Außer der Kirche kein Heil. Darin ist all das Gesagte inbegriffen.
aus: Albert Maria Weiß, Liberalismus und Christentum, 1914, S. 271-274