Der Reformkatholizismus der jüngeren Ordnung
Der Reformgeist will Änderungen in der Lehre Christi
45. Folgen wir ihm auf das Gebiet der biblischen Wissenschaften, so empfängt er uns an der Schwelle mit der viel verheißenen kurzen Erklärung „Konzessionen“ müssten wir machen.
Wer von Konzessionen spricht, sollte sich vor allem fragen, ob er das Recht dazu habe, wem er Konzessionen machen dürfe, und vor allem, aus welchem Besitztum er seine Freigebigkeit bestreite. Aber all diese Fragen sind für den Liberalismus bedeutungslos. Ist es ja doch eine alte Erfahrung, dass er am liebsten liberal vom fremden Eigentum ist. Er macht also Konzessionen.
Diese Konzessionen sind aber sehr zahlreich und gehen mitunter sehr weit, so weit, dass man davon die ganze Richtung „Konzessionismus“ genannt hat. Es ist fast schwer, hier Anfang und Ende zu finden…
Nun ja, um es frisch zu sagen: das Evangelium enthalte Widersprüche, die sich nun einmal nicht ausgleichen ließen. Die Evangelisten seien nie lehrreicher, als wo sie den göttlichen Meister mißverständen. Ihre Benutzung des Alten Testamentes sei ein wahrer Jammer: „sie schneiden gleichsam den alttestamentlichen Rock zurecht“ und – stecken den Messias hinein. Ihre Begriffe von Geschichtsschreibung unterscheiden sich ganz bedeutend von den unsrigen. Auch die Apostelgeschichte sei recht fahrlässig geschrieben.
46. Begreiflich bei solchen Zuständen der Wunsch, die Kirche möge von ihrer Gewalt, zu binden und zu lösen, Gebrauch machen und uns hier etwas Erleichterung verschaffen.
Das müsste sie freilich ziemlich überall tun, und zwar im ergiebigsten Maße, sonst glaubt sich der Reformkatholizismus befugt, ja verpflichtet, das Joch selber zu erleichtern.
47. Vor allem wünscht er, dass das derzeit anstößigste Wort, das Wort „übernatürlich“, entweder ganz ausgemerzt oder doch in einer Weise erklärt werde, die der Welt besser zusage. Eigentlich bedeute das Wort „übernatürlich“ ja doch nur „außervernünftig“. Darum wolle die Zeit nun einmal nichts mehr wissen von diesem „Transmissionsriemen in die Ewigkeit“. Man solle also von dieser „theoretischen Loslösung des Übernatürlichen vom Natürlichen“, dieser „Überspannung des Unterschiedes von natürlich und übernatürlich“ nicht so viel Aufhebens machen. Wozu auch? Der Gott der Humanität wirke in der neuzeitlichen Welt, der Gott der Offenbarung wirke in der Kirche; in beiden sei es ein und derselbe Gott, der wirksam sei. Übernatürliche Offenbarung nach der engen Vorstellung der Scholastik gebe es überhaupt nicht; keine Religion komme fertig zur Welt, jede entwickle sich im Laufe der Jahrhunderte, so auch das Christentum.
Dementsprechend sollten auch wir uns für unser eigenes Leben einrichten. Die übertriebene Betonung der übernatürlichen Tugenden schade den natürlichen Tugenden.
48. Was vom Übernatürlichen im allgemeinen gilt, das trifft selbstverständlich beim Wunder in ganz besonderer Weise zu. Das Christentum bedürfe keiner Wunder; die Verinnerlichung des modernen Menschen mache uns begreiflich, daß es keine Wunder gebe und keine Wunder gegeben habe. Wer könne denn heute noch an das Auferstehen eines Toten glauben, und wer glaube in Wahrheit daran? Wenn einer auferstehe, so sei er eben nicht tot gewesen.
Übrigens komme es auch hier auf die Erklärung an. Darum lehrt uns der Reformkatholizismus auch das Wunder in einer entsprechenden modernen Weise betrachten. Man müsse bedenken, daß im Sinn des Altertums, zumal des biblischen Altertums, ein natürlicher Verlauf der Dinge nicht bestehe, weil man damals keine Vorstellung von den Gesetzen der Natur gehabt habe. Da sei alles auf einen besondern Willen der Gottheit zurück geführt worden, der regelmäßige Sonnenaufgang so gut wie der Stillstand der Sonne unter Josua. Was also das Wunder ausmache, das sei nur dieser besondere göttliche Wille für einen außerordentlichen Fall. Vom Standpunkt des Glaubens aus wie von dem der früheren Völker sei das Wunder nur eine mehr sinnfällige göttliche Tätigkeit; vom Standpunkt der Wissenschaft und der Vernunft aus sei es ein weniger gewöhnliches Ereignis, das aber der nämlichen Ordnung angehöre wie alle übrigen. Das Wunder sei also der Gang des Lebens und der Welt, betrachtet im Glauben; der nämliche Gang des Lebens und der Welt, betrachtet von der Vernunft, sei die Ordnung der Natur, das Gebiet der Wissenschaft und der Philosophie.
So diese Erklärung, welche die ganze Frage um das Wunder auf einen leeren Streit um das Wort zurück führt. Hört die Welt auf, theologisch zu sprechen, und setzt sie an die Stelle der theologischen Sprechweise die vernünftige, wie sich Alaux ausdrückt, dann hat es mit dem Wunder ein Ende.
51. Durch die „Notwendigkeit, den katholischen Theologen zu widersprechen“, wird der Reformkatholizismus auch zu sehr bedeutenden Änderungen in der Lehre von der Person Christi getrieben. „Die Wahrheit zwingt mich, zu erklären“, sagt Abbé Georgel, „dass die Person des Wortes nicht die Person Jesu ist. Die Menschheit des Erlösers ist nur mit der göttlichen Wesenheit vereinigt… Indem die Wesenheit des Wortes in die Person Jesu ihren Einzug nahm, erhielt der Erlöser die Fähigkeit zu unendlichem Verdienst. Das muss aber richtig verstanden werden. Die göttliche Wesenheit ist nicht tätig und bringt keine Tätigkeit außerhalb der drei göttlichen Personen selbst hervor. Sie ist kein aktives Prinzip. Darum wirkt sie bei den Tätigkeiten Jesu nur passiv mit. Die Menschheit Jesu ist also in seiner Person das einzige aktive Prinzip. Darum hatte Jesus, um seine unermeßliche Aufgabe zu erfüllen, alle Hilfsmittel der Gnade nötig.“ Das ist augenscheinlich der reine Nestorianismus.
Von da ist es nicht mehr weit bis zum vollkommenen Arianismus. Bereits vernehmen wir den Satz: „Man wird eines Tages aufhören, die Gottheit Jesu Christi in dem katholischen Sinn des Wortes ‚gleichwesentlich‘ zu bekennen.“
52. Die Lehre von der Erlösung durch das Blut Christi darf auch nicht in dem Sinn der katholischen Theologie genommen werden. Nicht Gott, sagt die neue Schule, habe dieses Opfer gefordert, es sei ein Ergebnis der menschlichen Freiheit und Bosheit. Christus habe uns erlöst durch sein Wort und sein Beispiel; die alt hergebrachte Lehre von der stellvertretenden Genugtuung Christi sei „ganz und gar hinfällig“.
53. Dass die Katholiken leichter der Hölle entgehen können als die Nichtkatholiken, das sei kein Glaubenssatz. „Diese Behauptung hieße aus dem ewigen Leben ein Kartenspiel (jeu de cartes) machen.“
Die Lehre des Katechismus, daß der Mensch durch die Erbsünde der Begierlichkeit, dem Leiden und dem Tod unterlegen sei, wäre, im buchstäblichen Sinn genommen, eine Absurdität (une absurdité).
Die „Enterbten“, d. h. die Arbeiter und alle die Unglücklichen, die den Glauben nicht haben, seien deshalb, weil sie den Katechismus und seine Vorschriften vergessen haben, nicht verloren; sie retteten sich durch ihre zwar rohen, aber großen natürlichen Tugenden. Die Verkündigung des Evangeliums erleichtere ihnen wohl das übernatürliche Glück. Aber wenn sie auch nicht in den Himmel der Auserwählten kommen, d. h. Gott von Angesicht zu Angesicht sehen, so hätten sie das natürliche Glück zu erwarten wie die Kinder, die ohne Taufe sterben.
54. Auch in Bezug auf die Sünde müsse eine mildere Auffassung eintreten. Freilich trenne die Todsünde von Gott. Aber die formale Todsünde führe sich doch zuletzt einzig auf die „Sünde mit aufgehobener Hand“ zurück, und diese werde denn doch nicht so leicht und so oft begangen.
55. Im Altarssakrament sei nicht das Blut Christi noch sein materielles Fleisch, sondern nur seine Substanz, sein physisches Leben. Jesus Christus sei also gegenwärtig in der Hostie durch seine Tätigkeit (action), und die Substanz Christi sei seine Monade.
56. Die Lehre von der ewigen Verdammnis bedürfe ebenfalls einer gründlichen Reform. In den ersten Jahrhunderten, erklärt der Reformkatholizismus, glaubte ohnehin niemand an eine ewige Verdammnis, wenigstens nicht der Christen, und selbst die endliche Rettung des Teufels hatte viele Verteidiger. Darum sei die Leugnung der ewigenStrafe kein Widerspruch gegen den katholischen Glauben. Allerdings figurierten Himmel und Hölle in der herkömmlichen Erklärung als Orte; aber man würde viel zutreffender sagen, Himmel und Hölle bedeuten Seelenzustände, und zwar nicht erst im andern Leben, sondern schon jetzt. Auch das Fegefeuer bedeute einen Reinigungs-Zustand der Menschheit seit dem ersten Sündenfall, nicht erst im andern Leben. Dann aber könne man entweder eine Bekehrung im Augenblick des Todes oder eine Rechtfertigung im Jenseits annehmen.
aus: Albert Maria Weiß, Die religiöse Gefahr, 1904, S. 338-352