Der Reformkatholizismus der jüngeren Ordnung

Der Reformgeist will Änderungen in der Moral

58. Noch lauter ertönt, wie bekannt, der Ruf nach Reformen auf dem Gebiet der Moraltheologie. Und gewiß kann jeder in diesen einstimmen, wenn er im rechten Sinn und mit der geziemenden Bescheidenheit erhoben wird. Die gebührende Mäßigung wird aber kaum mehr gewahrt, wenn der Reformkatholizismus sagt, die Moraltheologie im Sinne der von P. Lehmkuhl noch immer festgehaltenen Methode sei eine „pharisäisch-judaistisch-rabbinisch-talmudistische Apotheker-Theologie“, und die des hl. Alphonsus sei „Weltverlorenheit“, „ein Wust anrüchiger Darstellungen, eine spitzfindigeAnleitung, wie man den Herrgott und sein eigenes Gewissen betrügen könne, wie man es anzustellen habe, um den bösen Lüsten frönen zu können, ohne zu sündigen“.
Der unglaubliche Haß, der sich in neuester Zeit gegen den hl. Alfons kund gegeben hat, darf wohl auf die Anregungen zurück geführt werden, die der Reformkatholizismus gegeben hat. Das Monströseste, schreibt Döllinger, was wohl je auf dem Gebiet der theologischen Lehre vorgekommen, sei die feierliche Proklamierung des Alfons Liguori zum Doctor Ecclesiae. Ihm sei in der ganzen Kirchengeschichte kein Beispiel einer so furchtbaren, so verderblichen Verwirrung bekannt. In allen Seminarien werde die nachwachsende Generation des Klerus mit diesen Büchern des Liguori vergiftet.

59. Andere gehen noch weiter und verlangen sogar eine Reform der Moral. Das tut insbesondere der sog. „Amerikanismus“, indem er den angeblich „passiven“ Tugenden, der Demut, der Geduld, der Sanftmut, die ja im Mittelalter ihren Wert gehabt hätten, kurz, der ganzen „Duckmäusermoral“ des Christentums, wie sich Nietzsche ausdrückt, die Bedeutung für unsere Zeit abspricht und nur die „aktiven“ Tugenden, die „persönliche Selbständigkeit“, die „kräftige Hervorhebung der eigenen Persönlichkeit“ gelten läßt. Selbstverleugnung, sich für den Geringsten achten, sich jede Hintansetzung gefallen zu lassen, das möge für „zurück gezogene Ordensleute“ Wert haben. Sonst aber heiße es jetzt im Gegenteil: Tu dich hervor und räume keinem andern das Feld; suche Einfluß zu gewinnen, um die Partei der Guten zu verstärken.

60. Daraus folgt, dass auch das Gebiet der Aszese von der Reform nicht unberührt gelassen werden kann. Hier greift der Reformkatholizismus sogar sehr kräftig ein, fast im Geist des Jansenismus, des Josephinismus und des Wessenbergianismus. Ja die modernen Reformer gehen darin manchmal noch weiter als ihre alten Vorbilder.
Damals wurde den dévotions parasitaires der Krieg bis zum Messer – ja wahrhaftig, bis zum Messer – gemacht. Es gelte, hieß es, aus der Kirche den Schutt weg zu räumen, von dem das Volk nichts habe, die „übermäßige“ Verehrung der Mutter Gottes, die vielen Kapellen, die Wallfahrten, dieses „Gift für die Moralität, das nur zur Bereicherung der Bäcker, der Metzger und der Wirte diene“, die Unzahl von Weihungen und Segnungen, das ewige Rosenkranz-Beten, die verschiedenen Bruderschaften, das Brevier-Beten, die wöchentliche Beichte, die öftere Kommunion.
Heute, in unserer demokratischen Umgebung dürfte man natürlich nicht aus Gründen der Abstinenz und der Sparsamkeit gegen all diese Übungen der Andacht auftreten. Im Gegenteil, soweit sie den Genuss von Wein und Bier und den Verkehr und die Geselligkeit fördern, begrüßt man sie sogar als ein Mittel zur Hebung des öffentlichen Wohlstandes. Um so entschiedener feindet man sie angeblich im Interesse der gesunden Frömmigkeit an. Man stellt unser gutes katholisches Volk hin, als stünde es auf einer Stufe mit den Stedingern und mit den Wiedertäufern in Münster. Um es aus ähnlichem „Fanatismus“ zu retten, müsse man kämpfen „gegen jene künstliche Pflege einer Ideen- und Gefühlsweise, die sich das Jenseits naiv in den Kategorien des Diesseits vorstelle und fast nur (!) in mystischen Privatoffenbarungen, exquisiten Kulten sowie in übernatürlichen Kundgebungen der himmlischen Wesen wie der bösen Geister, kurz, im Phantastischen schwelge“.
Damals focht der Jansenismus ja wohl auch in seinem ungeschichtlichen Streben, die ganze Entwicklung des Christentums durch alle Jahrhunderte hindurch abzuschneiden und der Kirche wieder in die Katakomben zurück zu versetzen, damals, sagen wir, focht er ja auch wie Don Quijote gegen die eingebildeten Windmühlen der Gedankenlosigkeit und Unandacht, die seine lieblose Kritisiersucht in so vielen dem Volk teuer gewordenen neueren Übungen der Frömmigkeit erblickte. Immerhin waren aber doch manche Jansenisten verständig genug, sich zu sagen, dass ja niemand zu diesen verpflichtet sei, und dass sie sich an die alten Übungen halten könnten, wenn ihnen die neueren nicht zusagten; darum beteten sie um so eifriger das Psalterium und die Kirchengebete der frühesten Zeit…

Heute verspricht uns der Reformkatholizismus zwar schon auch mitunter, er wolle die Religion herstellen so, „wie sie aus den Händen Christi hervor gegangen sei“. Aber öfter und lieber als and das „Christentum Christi“ verweist er uns an die „modernen Ideale“, die ja nichts anderes seien als die reif gewordene Frucht der christlichen Aussaat, und sagt uns, wir müssten „Berührung suchen mit der modernen Seele“, wollten wir anders noch Einfluss auf die moderne Welt üben.
„Modern“ werden, und die ganze Reform ist geschehen, das ist der langen Rede kurzer Sinn.

61. Hier haben wir eines der auffälligsten Merkmale, die den Geist dieser ganzen Richtung kennzeichnen, die Einführung der modernen Denk- und Sprechweise, ja des ganzen (…) Zeitungsjargons in die ernstesten theologischen Erörterungen. Ohne es zu beachten, läßt sich einer vom andern anstecken und steckt dann wieder andere an. So hat sich das unselige Wort „Katholizismus“ eingebürgert, mit dem wir den katholischen Glauben und die katholische Kirche dem rein negativen Protestantismus wie gleichwertig an die Seite setzen und uns an die protestantische Auffassung gewöhnen, als sei der „Katholizismus“ nur eine unwesentliche Zugabe, eine allmähliche, spätere „Entwicklung“ aus dem „Wesen“ des Christentums, aus der „Religionsform“ und dem „Christentum Christi“. So finden wir uns durch die Worte Kurialismus, Ultramontanismus, Scholastizismus mit unsern Verpflichtungen gegen die kirchliche Autorität und ihre Entscheidungen ab. So glauben wir durch die häßlichen Phrasen von Zelotentum, Heuchelei, Pharisäismus, Schriftgelehrtentum, Häresienschnüffelei, Zionswächtern, Obskurantismus, Seminartheologie die Geringschätzung der ganzen katholischen Theologie, die Verachtung der kirchlichen Vorschriften und die blinde Auslieferung an die modernen Ideen gerechtfertigt zu haben. So verbreiten wir Ausdrücke wie: Gewinnung neuer Lebensformen, Kampf um einen neuen Lebensgehalt, sittliche Selbstbejahung, ideale Gestaltung des Lebens, eine von starkem sittlichem Pathos getragene Geistesrichtung, ethische Erhebung über die Geschlossenheit der Naturkausalität, Altruismus, … Rettung der menschlichen Grundwerte, Eingehen auf die Bedürfnisse der modernen Volksseele, liebevolle Angliederung an die moderne Gefühlswelt, vorurteilslose Anerkennung der modernen Denkwerte, Wagemut vornehmer Zeitgedanken, gesteigerte Lebensauffassung usw., lauter Ausdrücke, die den Verstand umnebeln, den Charakter entnerven, das Phrasentum befördern, und was die Hauptsache ist, die Geister unfähig machen, die kernige Sprache der Kirche und ihrer Wissenschaft erträglich zu finden. Mit den alten, christlich und biblisch klingenden Worten, so entschuldigt man dieses reformjüdische Kauderwelsch, würden wir die Welt von Anfang an abstoßen; wolle man sie gewinnen, so müsse man sprechen wie sie und meiden, was sie nicht gerne hört.

62. Das größte Verbrechen, die schlimmste Gefahr, um nicht zu sagen, die einzige Sünde, die der Reformkatholizismus kennt, der einzige Abweg, vor dem er warnt, das einzige Verhängnis, das er fürchtet, ist Abweichung vom Geist der Welt, oder wie er sich ausdrückt, die Weltflucht. Jedenfalls verzeiht er alles eher als Abwendung vom Geist der Welt nach der Anweisung des Herrn und seiner Apostel, oder wie er sich ausdrückt, „Prüderie“ und Mangel an „freier Auffassung“.
Wer gegen den Geist der modernen Literatur ein Wort sagt, der ist sicher des Spottes als „Tugendwächter“, der wird gebrandmarkt als Finsterling, weil er die „harmloseste Regung“ natürlicher Triebe mit „schonungslosem Fanatismus“ geißle…
Und dem Klerus predigt man Abschaffung des Zölibats oder rät doch wenigstens zur Öffnung eines „legalen Türchens“, damit das scandalum puillorum aus der Welt geschafft werde.

aus: Albert Maria Weiß, Die religiöse Gefahr, 1904, S. 353-361