Der Reformkatholizismus der jüngeren Ordnung

Der Widerstandsgeist gegen die kirchliche Obrigkeit

66. Damit soll der unerquickliche Rundgang abgeschlossen sein. Wir haben uns absichtlich auf das mindeste beschränkt, soweit es nötig war, einen allgemeinen Überblick über die ganze Tragweite dessen zu gewinnen, was man Reformkatholizismus nennt. Wir haben auch, wie bereits gesagt, vermieden, Namen zu nennen, wo es nur immer möglich war. Wir kämpfen nicht gegen Personen, sondern für eine heilige Sache.
Diese Sache ist aber auf das äußerste gefährdet durch die Richtung, die wir hier darzustellen versuchten. Der Reformkatholizismus geht mit Personen wie mit Sachen in einer Weise um, die alle Achtung vor Würde und Stand, die jede Autorität, die zuletzt den Glauben an die göttliche Stiftung der Kirche untergraben muss.
Schon das unwürdige Beschimpfen kirchlicher Personen und Einrichtungen, wovon früher bereits die Rede war, kann nur entsittlichend und zerstörend wirken. Die Reformer meinen nur verhaßte Gegner zu treffen, wenn sie die Orden „Hemmschuhe für eine zeitgemäße Entwicklung“ nennen und den Jesuiten Infamie, Diabolik, Perfidie, Schamlosigkeit vorwerfen (s. Müller, Reformkatholizismus II, S. 99), wenn sie einen „Ultramontanen“ einen „Streithengst“ schelten und ihm „gottverlassene Verhärtung“ vorwerfen. Aber auch Ordensleute und Jesuiten sind Priester, und Ultramontane wie Hergenröther und Haffner, die so abscheulich behandelt werden, waren noch etwas mehr. Wenn aber Katholiken selber die geistliche Stellung und Würde an den Ihrigen also behandeln, warum beklagt man sich dann über den Ton der gemeinen Presse?
Noch schlimmer ist das Auftreten gegen die kirchliche Obrigkeit selbst. Wahrhaft unverantwortlich ist der Ton, in dem manche Reformer von den kirchlichen Obern sprechen. Selbst gewisse christliche Blätter, ja Blätter für den Klerus haben nur zu oft Worte des Spottes oder Geringschätzung für sie. „Ein ganz konsequenter Katholik“, sagt Pichler, „vor allem ein seinem Eid ganz getreuer Bischof, der sich zur möglichsten Verfolgung aller Nichtkatholiken verpflichtet, wäre ein reißendes Tier, das man in jedem zivilisierten Staat an Ketten legen oder verbannen müsste“. Man möchte meinen, es genüge, daß einer Bischof werde, um Gewissen, Verstand und menschliche Bildung, aber auch jeden Anspruch auf Rücksicht und anständige Behandlung zu verlieren.
Ein solches Gebaren muss zuletzt jeden Glauben an die Kirche und ihre Organe erschüttern. Bei den Personen beginnt man und bei der Institution endigt man. Kein Wunder, dass man zuletzt rundweg sagt, nichts habe Religion, Wissenschaft und nationales Wohl so sehr beschädigt als der Glaube an die Göttlichkeit des römischen Papsttums; für das „Vorurteil“ von der Unfehlbarkeit des Episkopates und der allgemeinen Konzilien sei „auch nicht ein Schein von Beweis in Schrift und kirchlichem Altertum zu entdecken“.
Das alles ist nicht mehr Reform, sondern Zerstörung, nicht mehr Erneuerung, sondern Neuerung, Auflehnung bis zur Häresie.

67. Mit bitterem Schmerz haben wir in den Reihen der Reformer Männer von den größten Gaben gefunden, Männer, die sich um die Kirche hervorragende Verdienste erworben haben, Männer, die es als ihre Überzeugung aussprechen, daß „die fortschrittlichen Katholiken die Macht der Kirche nicht verringern, sondern sie ungeheuer vermehren wollen“.
Wir würden fürchten zu sündigen, wenn wir das in Zweifel zögen. Wer an Cyprian (siehe den Beitrag: Der heilige Papst Stephanus über die Ketzertaufe) oder an Fénelon denkt, der weiß, dass auch der Beste im besten Glauben in den wichtigsten Dingen schwer irren kann.
Aber wenn wir die Personen aus dem Spiel lassen, ja entschuldigen, so können wir ihre Haltung nicht verteidigen, noch die Sache gelten lassen, die sie vertreten.

68. Niemand, der uns bis hierher gefolgt ist, wird sich der Überzeugung verschließen, daß der neue Reformkatholizismus dem alten blutsverwandt ist. (siehe den Beitrag: Reformkatholizismus des 18. Jahrhunderts)
Er unterscheidet sich nur nach zwei Seiten hin von ihm.
Der Ansturm gegen den Mittelpunkt der kirchlichen Einheit ist jetzt, nach dem letzten Kampf, durch das Vatikanum zur Ruhe gebracht worden. Jetzt bleibt nur übrig, sich ins Unvermeidliche zu fügen oder aus dem Reformkatholizismus den Altkatholizismus zu machen. Will man nicht so weit gehen, so kann man sich bloß durch einen um so beharrlicheren Kampf gegen die bischöfliche Autorität einigermaßen schadlos halten und mit Berufung auf die Zeitbedürfnisse, die persönliche Mündigkeit, die staatsbürgerlichen Rechte, insbesondere aber mit Berufung auf die sog. christliche Demokratie das öffentliche politische Treiben, das „freie Versammlungs-Recht“ und den Parlamentarismus in die Kirche einzuführen versuchen.
Auf der andern Seite aber hat der moderne Reformkatholizismus seine Tätigkeit ganz bedeutend ausgedehnt, und zwar in dreifacher Weise.
Der alte kämpfte hauptsächlich gegen das feste Gefüge der Kirche, der neue greift tiefer, er faßt das Christentum im weitesten Sinne des Wortes an.
Der alte versuchte zumeist die beiden loci theologici von der Autorität der Kirche und der Theologen zu erschüttern, der neue wirft alle loci theologici ohne Ausnahme um, zerstört die ganze theologia fundamentalis zusamt der Lehre vom Glauben und vom Übernatürlichen, also kurz gesagt, alle Grundlagen des Glaubens, der Theologie und des christlichen Lebens.

Und endlich faßt er nunmehr die Heilige Schrift ganz besonders als Ziel seiner zerstörenden Tätigkeit ins Auge, entkleidet sie ihres übernatürlichen Charakters und behandelt sie wie jedes andere natürliche Buch, oder vielmehr so, daß man kein natürliches Buch in gleicher Weise behandeln würde.

69. Dies zu zeigen, war die Absicht der Untersuchungen, die wir hier angestellt haben.
So lückenhaft aber auch diese Übersicht ist, das zeigt sie doch, dass Pater Faber unsere Zeit richtig gekennzeichnet hat, da er einmal sagte (Der Schöpfer und das Geschöpf): Die ganze Luft ist verderbt, verpestet, angesteckt mit Keimen, für die wir nur den Namen „pelagianisch“ finden können. Man könnte ebenso gut sagen: die ganze Luft, die wir atmen, ist arianisch, ist sozinianisch, ist jansenistisch, ist rationalistisch. Am einfachsten ist es zuletzt, zu sagen: die ganze Luft, aus der wir unsere Ideen beziehen, sind modern. Es ist eben der Modernismus, der Naturalismus, der Säkularismus, der den Ton in der Welt angibt und leider auch für unser Denken und Tun.

aus: Albert Maria Weiß, Die religiöse Gefahr, 1904, S. 368-372