Der Reformkatholizismus der jüngeren Ordnung

Die Logik des Reformgeistes des Reformkatholizismus

70. Dass nicht alle, die ihre Beiträge zum Reformkatholizismus liefern, mit all dessen Aufstellungen einverstanden sind, haben wir bereits gesagt.
Eine andere Frage ist, ob sie sich von der Verantwortlichkeit für jene Sätze lossprechen können, die ihnen nicht mehr zusagen. Sie freilich behaupten es. Wir glauben das verneinen zu müssen. Sie überschreiten die Schranken bis zu dem Punkt, bis zu dem es ihnen beliebt, und ziehen durch ihr Beispiel andere mit, die um vieles weiter gehen. Wer aber gibt ihnen ein Recht, jenen das Weitergehen zu wehren? Ihnen gefällt es, nur bis zu diesem Punkt fortzuschreiten, jenen gefällt es, noch einige Schritte mehr zu machen. Handeln jene nach ihrem Gutdünken, warum wehren sie diesen, dem ihrigen zu folgen? Und wer kann sie von der Schuld frei sprechen, wenn jene, die von ihnen zum Laufen gebracht worden sind, nicht mit ihnen stehen bleiben, vielleicht moralisch nicht einmal mehr einhalten können?
Überdies sind es gerade sie selber, die ihre eigene Verantwortung zugestehen. So oft sie einen gewahr werden, der alles Maß mit Füßen tritt, so oft sie von einem hören, den die Kirche verurteilen musste, atmen sie einerseits getrost auf und rufen: Nun, so weit fehlt`s bei uns doch nicht! Und anderseits muntern sie sich gerade dabei auf, die eingeschlagene Richtung noch weiter zu verfolgen, indem sie sagen: Nun, da können wir noch vieles wagen, bis wir dahin kommen, wo diese sind!

71. Dieses Verhalten muss seine Früchte tragen. Der Glaube ist unaussprechliche schwach und gefährdet. Von allen Seiten stürmt die Welt gegen den altehrwürdigen Dom. Wenn nun auch wir von innen abbrechen und erschüttern, was jene von außen nicht bewältigen kann, was wird die Folge sein? Bedenken wir nur, um eines der traurigsten Beispiele zu wählen, die Art, wie an so manchen Gymnasien der Religions-Unterricht betrieben wird. Geschähe zur Stärkung des Glaubens und zur Förderung der Frömmigkeit ebenso viel wie zur Weckung des kritischen Sinnes in den jungen Geistern, so würden wir nicht Klage erheben. So aber möchte man hie und da meinen, der angebliche Religions-Unterricht sei ein anatomischer Versuch, wie viel man täglich vom Glauben wegschneiden könne, ohne dass er gerade plötzlich unter dem Messer sterben müsse. Und wir wundern uns bei diesem Minimismus über die Zunahme des Unglaubens bei den Studierenden!
Aber zuletzt sind wir alle selber Menschen, und der Glaube ist in uns ebenso zart und leicht gefährdet wie in jedem Menschen. Wer von uns ist seines Glaubens sicher, wenn er einmal damit zu experimentieren beginnt, zumal wenn er so verwegen experimentiert, wie es hier geschieht?
Und dazu liegt die Gefahr gerade auf dem Gebiet der Apologetik sehr nahe. Möchten das alle Liebhaber dieser schweren und verantwortungsvollen Wissenschaft bedenken, Laien und Nichtlaien! Wer sich auf dieses Feld begibt ohne gründliche philosophische und theologische Schulung, ohne die größte Rücksicht auf die Lehren, auf den Geist, auf die Praxis der Kirche, ohne heilige Furcht, ohne religiöse Scheu, ohne fromme Bescheidenheit, der kommt leicht in Gefahr, der Wahrheit, dem eigenen Gewissen, dem Seelenheil der Gläubigen Schaden zuzufügen und zuletzt die Fragen des Glaubens zu behandeln wie eine auf dem Trödelmarkt feilgebotene Ware, die man um Schleuderpreise an den Mann zu bringen sucht.
Gewiss hat kaum einer von allen denen, die uns im vorstehenden Schmerz und Bedauern eingeflößt haben, zu Anfang im Sinne gehabt, bis dorthin fortzuschreiten, wo wir ihn endlich getroffen haben. Jedoch es hat sich an ihnen nur zu oft das Wort des ehrwürdigen Bergier erfüllt: „Wer im Schoß des Christentums die allgemeine Überlieferung verläßt, der verfällt in Ketzerei, und fährt er weiter fort, so bleibt er nicht lange dabei stehen, sondern er geht rasch über zum Deismus, zum Materialismus, zum völligen Pyrrhonismus (*): entweder betet er den Gott Spinozas an, oder er betet überhaupt gar nichts mehr an.“

72. Es ist etwas Ernstes, ja Furchtbares um das, was man die Logik der Tatsachen oder der Geschichte nennt. Diese hat eine Bewegung, die mit der unsrigen sehr viel gemein hat, am Anfang des 16. Jahrhunderts zur großen Kirchenspaltung getrieben und Tausende in den Abgrund gezogen, die nicht an den Abfall dachten. Dieselbe Logik hat aus derselben Bewegung den furchtbaren Umsturz zu Ende des 18. Jahrhunderts erzeugt. Dieselbe Logik hat aus derselben Bewegung in den dreißiger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die traurigen Ereignisse geschaffen, deren Zeugen viele aus uns gewesen sind. Dieselbe Logik muss dieselbe Bewegung auch im 20. Jahrhundert zu einer Katastrophe führen. Eine Bewegung, die so weit und so tief greift, erlischt nicht mehr in sich selbst. Es wäre uns ein wahrer Trost, wenn diesmal die Logik der Geschichte unterläge, es wäre aber das erste Mal. (siehe dazu auch den Beitrag: Modernisten Wegbereiter der Apostasie) –
aus: Albert Maria Weiß, Die Religiöse Gefahr 1904, S. 372-375

(*) historische Variante des Skeptizismus