Der Römerbrief des heiligen Apostels Paulus 9. Kapitel Vers 14-21

Die Freiheit der göttlichen Gnadenzuteilung

14. Was wollen wir nun sagen? Handelt Gott etwa ungerecht? (1) Das sei ferne! (2)
15. Denn zu Moses sagte er: Ich erbarme mich, wessen ich mich erbarmen will: und ich erzeige Barmherzigkeit, wem ich Barmherzigkeit erzeigen will. 2. Mos. 33, 19.
16. Also liegt es nicht an Jemands Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen (3).
17. Denn es spricht die Schrift zu Pharao (4): Eben dazu hab ich dich erweckt (5), um an die meine Kraft zu zeigen, und damit mein Name verkündigt werde auf der ganzen Erde (6).
18. Also erbarmt er sich, wessen er will, und verstockt, welchen er will (7).
19. Du sagst mir nun: Warum tadelt er noch? Denn wer kann seinem Willen widerstehen? (8)
20. O Mensch! (9) wer bist du, dass du mit Gott rechten willst? Spricht etwa das Werk zu seinem Meister: Warum hast du mich so gemacht? (10) Weish. 15, 7.
21. Hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus derselben Masse ein Gefäß zur Ehre, und das andere zur Unehre zu machen? (11)

Anmerkungen:

(1) Wenn Gott nach dieser Lehre aus freier Gnade, ohne Rücksicht auf äußere Umstände, ruft, handelt er damit nicht ungerecht?
(2) So etwas zu behaupten! Diese Lehre enthält selbst das Gesetz Mosis. Nach diesem hängt Alles von dem freien Willen Gottes ab; Gott erweckt den Guten und erweckt (läßt eine Zeitlang bestehen) den Bösen, und es erscheint so Alles unter dem Willen Gottes beschlossen (Vers 15-18)
(3) Aus dem Ausspruch Gottes zu Moses zieht der Apostel den Schluss, dass bloße menschliche Kraftäußerung nicht vermöge, Würdigkeit und somit ein Recht auf Gottes Liebeserweise zu bewirken. Damit ist nicht gesagt, dass menschliche Tätigkeit gar nicht erfordert werde, vielmehr sagt der Apostel und die Schrift anderwärts, dass das Wollen bei dem Menschen da sein müsse, wenn er begnadigt werden soll, und dass sein Nichtwollen die Begnadigung verhindere (1. Kor. 9, 24; Hebr. 12, 1; Phil. 3, 14; Matth. 23, 37; Joh. 5, 40; Jer. 3, 12). Der Apostel schweigt hier darüber, um die freie Gnade Gottes, die allem guten Willen voran geht, desto mehr ins Licht zu stellen.
(4) Wie sehr Alles von dem Willen Gottes abhängt, ersehen wir aus den Worten, welche Gott in Bezug auf Pharao sprach (2. Mos. 9, 16), der ungeachtet des Befehles Gottes und der Strafen, die seine Widerspenstigkeit trafen, dennoch die Israeliten nicht ziehen ließ.
(5) Diesem Ausdruck entspricht das Verstocken im folgenden Vers, und der Sinn ist demnach: Eben darum habe ich deine Verstockung bewirkt, d. i. deine Verstockung zugelassen. Das, was Gott bloß zuläßt, wird in der Schrift häufig so vorgestellt, als ob er es gewirkt hätte (2. Mos. 7, 3; 9, 12; 10, 20 u. 27). Dass Gott das Böse nicht eigentlich wirkt, versteht sich aus seinem unendlich heiligen Wesen von selbst.
(6) Der Sinn ist: Darum, weil ich wollte, dass durch deine Verstockung meine Macht vor allen Menschen verherrlicht werde, habe ich sie zugelassen. – So liegt selbst das Böse in Gottes Willen, wenn nicht in seinem verfügenden, doch in seinem zulassenden Willen. Gott läßt das Böse zu, weil er der Freiheit des Menschen keine Gewalt antun kann, ohne den Menschen selbst aufzuheben. Er macht aber in seiner Allmacht, dass es wider den Willen dessen, der es verübt, seine Ehre und das Heil des Ganzen befördert. Man vergesse hierbei nicht, dass das, was seine Allmacht ins Gute wendet, seine Heiligkeit hasst und seine Gerechtigkeit straft.
(7) Also liegt Gnade und Verstockt-sein-lassen in seinem Willen. Siehe die vorige Note.
(8) Sinn: Wenn auch das Böse im Willen, im Ratschluss und Plan Gottes liegt, wie kann sich Gott noch darüber beklagen, und diejenigen strafen, die es verüben; sie konnten ja nicht anders handeln; denn seinem Willen kann man nicht widerstehen?
(9) Im Griech.: Aber, o Mensch!
(10) O Mensch! Der du ein bloßes Geschöpf bist, darfst du Gott zu Rede stellen, um mit ihm zu rechten? Darfst du fragen: Warum ist dies dein Ratschluss über mich?
(11) Ist Gottes Wille, sei er ein verfügender oder zulassender (Vers 16 u. 17), nicht frei, gleich wie auch ein Töpfer frei Macht hat, Gefäße zu edleren, andere zu minderedlen Zwecken zu bilden? Der Apostel vergleicht Gott mit einem Töpfer, was aber oben Note 21 in Betreff der Gleichnisse bemerkt wurde, dass die Züge derselben nicht buchstäblich zu nehmen sind, findet auch hier seine Anwendung. Es wäre gefehlt, daraus zu schließen, der Apostel wolle sagen, Gott habe die Juden zur Verleugnung des Christentums oder zur Verdammung geschaffen, wie die Heiden zur Annahme desselben und zur Seligkeit, gleich dem Töpfer, der unbedingt seine Tonmasse zu diesen oder jenen Gefäßen verbraucht.

Da der Apostel in dem Vorhergehenden nur die Freiheit des verfügenden oder zulassenden Willen Gottes in Schutz nahm, in Folge dessen die Einen für sein Reich auserwählt, die Anderen davon ausgeschlossen werden: so konnte in diesem Gleichnis seine Absicht keine andere sein, als zu lehren: Gottes Wille ist frei; wenn er einesteils den Heiden seine Gnade gibt, in die Kirche einzugehen und selig zu werden, andernteils aber zuläßt, dass die Juden seine Gnade zurückstoßen und verdammt werden, so darf sich das Geschöpf gegen seinen Ratschluss nicht erheben. Alles Übrige ist bloßer Schmuck des Gleichnisses, der nicht buchstäblich genommen werden darf.

Dass aus dieser Freiheit des verfügenden und zulassenden Willen Gottes nicht folge, dass der Mensch keine Freiheit habe, der Eine zum Guten, der Andere zum Bösen gezwungen werde, und jener unbedingt zur Seligkeit, dieser unbedingt zur Verdammung bestimmt sei, wurde schon oben (8, 28), wo ebenfalls dem göttlichen Ratschluss die Rede war, bemerkt. Hier ist dies um so augenfälliger, als Paulus in dem Folgenden dieser falschen Folgerung selbst vorzubeugen und das von Gottes Willen Gesagte gleichsam zu mildern sucht, indem er die weitere Ursache angibt, warum bei diesem Ratschluss die Einen zu Gefäßen des Zornes, die Andern zu Gefäßen der Herrlichkeit werden.

Das Nachfolgende schließt sich nämlich in dieser Weise an: Wie Gott an den Bösen, insbesondere an den Juden, die nicht in die Kirche eingehen, seinen Zorn zeigt, nachdem er sie in Langmut getragen, und sie dem Untergang übergingen, was nach den Prophezeiungen von einem kleinen Teil der Juden und von den Heiden gesagt werden kann (Vers 24 bis 29): so (Vers 30) geschieht dies nicht bloß, weil es so in seinem Ratschluss liegt, sondern weil die Juden eigenwillig durch ihr Gesetz selig werden wollen, und den Glauben verschmähen, während die Heiden Gerechtigkeit und Seligkeit im Glauben suchen (Vers 30 bis 33). Dies ist der einfache, von den Auslegern so häufig missverstandene Sinn dieser schwierigen Stelle. –
aus: Joseph Franz Allioli, Die Heilige Schrift des alten und neuen Testamentes. Aus der Vulgata, 6. Bd. 1838, S. 52 – S. 53