Der Römerbrief Kap. 9 Vers 14-21
Gott vollzieht seine Gnadenwahl mit uneingeschränkter Freiheit
Die Wahrheit, dass Gott seine Gnadenwahl mit uneingeschränkter Freiheit vollzieht, dass er den einen Menschen ohne dessen Verdienst zur wahren Kirche beruft, ihm ganz außerordentliche Gaben schenkt, den andern ohne dessen Verschulden nicht in diese Gemeinschaft aufnimmt, ihm größere Gaben versagt, bereitet vielen keine geringe Schwierigkeit. Sie werfen die Frage auf: Ist Gott nicht ungerecht oder handelt er wenigstens nicht willkürlich, wenn er den Lebensweg der Menschen ohne Rücksicht auf Verdienst oder Nichtverdienst von Ewigkeit im voraus festlegt?
Diese göttliche Vorherbestimmung, die unberührt von menschlicher Beeinflussung ihre Entscheidung trifft, ohne jedoch die Freiheit des Menschen anzutasten und seine persönliche Verantwortung auszuschalten, ist ein Geheimnis, das auch die größten Theologen nicht zu enthüllen vermochten. Hier gilt es, unerschüttert an dem Glauben festzuhalten, dass Gott nicht nur mit absoluter Freiheit seine ewigen und unabänderlichen Ratschlüsse faßt, sondern auch, dass seine Gerechtigkeit und Heiligkeit jeden Schatten eines Unrechts und launenhafter Willkür ausschließt, und dass seine unendliche Weisheit und unbegrenzte Liebe bei jeder Entscheidung mitwirkt. Mit diesem aus den unfehlbaren Glaubensquellen geschöpften Wissen haben wir uns demütig zu bescheiden und dürfen uns als Geschöpfe nicht anmaßen, den Schöpfer und Herrn zur Rechenschaft zu ziehen, warum er so und nicht anders handelt.
Darum gibt auch Paulus auf die gestellte Frage keine unmittelbare Antwort, sondern beweist nur aus der Heiligen Schrift, dass Gott frei ist in seinem Tun und als Schöpfer frei über die zu schaffenden Wesen verfügen kann. Er spricht in diesem Zusammenhang nicht wie im 8. Kapitel von der Vorherbestimmung zur himmlischen Seligkeit, sondern nur von der Berufung zum messianischen Gottesreich auf Erden, zur wahren Kirche Jesu Christi.
Aus zwei göttlichen Aussprüchen beweist Paulus, dass der Herr in vollkommener Unabhängigkeit seine Gnaden spendet oder versagt. Von der Freiheit in der Gewährung der Gnade redet das erste Gotteswort. Nachdem Israel am Sinai das goldene Kalb angebetet hatte und nun Gottes Zorn bis zur Vernichtung schwer auf ihm lastete, was Moses vor den Herrn getreten und hatte ihn um Erbarmen für sein Volk angefleht. Gott gewährte die Bitte, fügte aber das Wort hinzu: „Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen will, und werde Mitleid haben, mit wem ich Mitleid haben will“ (2. Mos. 33, 19).
Aus diesem Ausspruch des Herrn schließt der Apostel, dass es zunächst nicht auf das Wollen und Laufen des Menschen ankommt, sondern darauf, ob Gott sich erbarmen will oder nicht. Er ließ sich weder durch die Unwürdigkeit Israels abhalten, sich seines Volkes zu erbarmen, noch durch die Würdigkeit des Bittstellers die Verzeihung abnötigen. Mag ein Mensch noch so sehnsüchtig nach der erbetenen Gnade verlangen, mag er noch so eifrig danach streben, wie der Wettläufer in der Arena sein ganzes Denken, Wollen und Mühen auf die Erreichung des Zieles richtet, Gottes erbarmen kann damit nicht verdient werden. Er ist zwar der Allgütige, aber er erbarmt sich nicht, weil er muss, sondern weil er will. Es gibt nichts, wodurch Gott von den Menschen zu einer bestimmten Entscheidung gezwungen werden könnte.
Dennoch macht die Freiheit der göttlichen Entscheidung die menschlichen Bemühungen nicht zwecklos. Das Ringen und Bitten um eine Gnade ist ja selbst schon die Auswirkung einer göttlichen Hilfe. Gibt der Herr die Kraft zum rechten Beten, dann ist er auch bereit, das Flehen zu erhören. Dass Moses durch seine Fürsprache sein Volk vor dem drohendem Untergang bewahren konnte, ist ein vom Heiligen Geist selbst gewolltes Beispiel, dass es trotz der absoluten Freiheit Gottes nicht vergeblich ist, ihn um Gnade und Erbarmen anzuflehen.
Wie Gott mit uneingeschränkter Freiheit seine Gnaden austeilt, so kann er sie auch mit der gleichen Freiheit versagen. Dies veranschaulicht Paulus an dem Verhalten Gottes gegen Pharao. Auch hier handelt es sich nicht um das ewige Schicksal des Königs, sondern um die von Gott zugelassene Weigerung, Israel ziehen zu lassen. Als der Pharao auch nach der sechsten Plage bei seinem Widerstand verharrte, erhielt Moses den Auftrag, im Namen des Herrn zu ihm zu sprechen: „Ich ließ dich mit Absicht am Leben, um dich meine Macht fühlen zu lassen, damit man auf der ganzen Erde meinen Namen künde“ (2. Mos. 9, 16). Nach diesem hebräischen Text hatte der Herr Pharao trotz seiner Verstocktheit am Leben gelassen, weil er an ihm seine göttliche Allmacht erweisen wollte. Der Apostel gibt diesem Gedanken durch eine kleine, im biblischen Bericht begründete Änderung eine schärfere Fassung, indem er „ich habe dich am Leben erhalten“ ersetzt durch „ich habe dich erweckt“. Pharao glaubte, mit eigener Kraft dem Gott Israels zu widerstehen, und wußte nicht, dass in ihm die Macht dieses Gottes wirkte, dass dieser Gott ihn durch Entziehung der Gnaden zum Widerstand „erweckt“, gereizt hatte, um an ihm seine Gewalt zu offenbaren. So ist Gott nicht nur frei in den Erweisen seiner erbarmenden Liebe, er kann ebenso frei seine besonderen Gnaden dort versagen, wo er sie versagen will; er ist auch dann frei, wenn dadurch der sündige Mensch sich in seiner Sünde verstockt.
Muss diese absolute Freiheit Gottes nicht die sittliche Verantwortung des Menschen lähmen?
Wie kann der Herr noch den Unglauben und den Ungehorsam „tadeln“, verurteilen und strafen, wenn er, sei es auch nur mittelbar durch Entziehung weiterer Gnaden, selbst verhärtet? Der Mensch kann doch nicht dem göttlichen Willen widerstehen. Was Gott erreichen will, erreicht er mit unfehlbarer Gewissheit. Paulus würdigt diese Frage keiner Antwort, weil sie Gottes Wesen antastet. „Er sagt nicht, dass es unmöglich sei, eine Lösung dieser Frage zu geben, sondern dass es sinnlos sei, eine solche Frage zu stellen. Man müsse sich Gottes Fügungen unterwerfen und dürfe sich nicht den Kopf zerbrechen, wenn man auch den Grund nicht immer einsehe“ (Chrysostomus). Darum schlägt er die Frage einfach nieder, indem er auf die die Sinnlosigkeit hinweist, dass das Geschöpf mit seinem Schöpfer rechten, der Knecht seinen Herrn zur Verantwortung ziehen will. Stellt sich da der Mensch nicht auf eine Stufe mit seinem Gott, vor dem er doch ein Nichts ist?
„O Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst?“ Ein solches Rechten ist so widersinnig, als wenn (sofern dies möglich wäre) das Tongefäß mit dem Töpfer streiten wollte. Weil er es so und nicht anders geformt habe. Das Bild ist in der alttestamentlichen Literatur geläufig. Auch Jesaias ruft denen, die Gottes Ratschlüsse kritisieren, zu: „Wehe, wer mit seinem Bildner hadert, eine Scherbe von dem Lehm der Erde! Spricht wohl der Ton zum Töpfer: ‚Was machst du da?‘ und sein Werk: ‚Du hast ja kein Geschick‘?“ (Jes. 45, 9) Es steht doch ganz bei dem Töpfer, ob er aus dem gleichen Lehm eine Prunkvase oder einen einfachen Küchentopf schaffen will. Wie Gott mit absoluter Unabhängigkeit bestimmt, wem er das Dasein geben will, so bestimmt er ebenso unabhängig, wie dieses Dasein der einzelnen Menschen beschaffen sein soll. Nur eines schuldet ihm seine Gerechtigkeit, dass er ihm die Möglichkeit gibt, das ihm gesteckte Ziel zu erreichen. Alles andere aber, die verschiedenen Umstände seines Lebens in religiöser, beruflicher, sozialer und anderer Beziehung, das Maß auch der übernatürlichen Gaben und Gnaden setzt er mit absoluter Freiheit fest. Keiner darf sich beklagen, dass Gott ihm nur ein einziges Talent gab, den andern aber zwei oder fünf Talente; denn auch das eine ist freies Geschenk Gottes. Der Töpfer kann durch äußere Umstände veranlaßt werden, den Ton so oder anders zu formen, Gott läßt sich bei allem von seiner Weisheit und Liebe leiten, wenn der Mensch auch nicht den letzten Grund des göttlichen Handelns erkennt. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 86 – S. 89