Der Römerbrief Kap. 11 Vers 11-16
Die Verhärtung Israels im Licht der Göttlichen Heilsordnung
Das jüdische Volk hatte in seiner Masse an dem Messias Anstoß genommen und war dadurch zu Fall gekommen. Der Ausschluss vom Heil war die Folge der Ablehnung Christi als Messias; nicht aber hatte Gott die Ablehnung zugelassen, damit Israel ausgeschlossen werde. Die Verblendung der großen Masse der Juden war im Plan Gottes nicht Selbstzweck, nicht letzter Zweck seines Gerichtes über das jüdische Volk, sondern nur Mittel zur Erreichung eines anderen Zieles, nämlich des Heiles für die Heiden. Hätten sich die Juden in großer Zahl bekehrt, dann hätten die Apostel die ganze Kraft ihren Volksgenossen zugewendet und die Arbeit der Missionierung der Heidenwelt als eine Aufgabe zweiter Ordnung betrachtet; sie hätte sich verzögert und verlangsamt. Wahrscheinlich hätten sich die Forderungen der Judaisten in verstärktem Maß geltend gemacht, dass sich die Heidenchristen dem Gesetz und der Beschneidung unterwerfen müssten, und auch dadurch der Heidenmission viele Schwierigkeiten bereitet. Wohl hätte Gott in seiner Allmacht solche Hemmungen aufheben und überwinden können. Es lag aber in seinem Plan, durch die Verblendung der Juden die Möglichkeit zu schaffen, dass die Missionierung der Heiden so bald und in breiter Front in Angriff genommen werden konnte. Die großen Erfolge dieser Mission sollten die Juden eifersüchtig machen und ihnen schließlich doch die Augen öffnen. Das Glück, das die bekehrten Heiden im Besitz der Wahrheit fanden, sollte sie mit einer heiligen Eifersucht erfüllen. Was sich an den Juden und Heiden vollzog, hat Christus selbst im Gleichnis von dem königlichen Hochzeitsmahl anschaulich dargestellt. Der Hausherr hätte die Bettler nicht zu dem Gastmahl eingeladen, wenn die geladenen Gäste der Einladung Folge geleistet hätten.
Paulus denkt sich einen Augenblick in jene Zeit hinein, in der die Juden sich bekehren werden. Er erwartet von ihrer Aufnahme in die Kirche einen gewaltigen Aufschwung des christlichen Glaubens und des religiösen Lebens in der ganzen Welt. Denn wenn schon der Fall, die Verwerfung Israels, „Reichtum für die Welt“, einen ungeheuren geistigen Gewinn für die Heidenwelt bedeutete, und wenn ihr „Versagen“ „Reichtum für die Heiden“ war, welchen Gewinn wird es bedeuten, wenn einmal ihre Vollzahl in das Reich Gottes eingegangen ist. Die Heidenchristen mochten leicht geneigt sein, das verworfene Volk der Juden zu verachten und sich als die Auserwählten zu betrachten, zumal ein Mann wie Paulus seine ganze Kraft der Heidenmission widmete. Der Apostel urteilt ganz anders über seine Tätigkeit. Ihm ist sein Heidenapostolat gerade darum so t euer und gerade deshalb stellt er seine volle Kraft in dessen Dienst, weil es ihm wenigstens mittelbar auch ein Apostolat für die Juden ist. Wenn es im Plan Gottes liegt, durch die Erfolge der Heidenmission und durch das Leben der bekehrten Heiden auch in den Juden ein lebhaftes Verlangen nach dem Glück der Wahrheit zu wecken, dann wird Gottes Ratschluss mit dem jüdischen Volk um so früher erfüllt, je eifriger die Mission unter den Heiden betrieben wird. So war für Paulus auch die Liebe zu seinem „Fleisch“, zu seinen jüdischen Volksgenossen, ein mächtiger Antrieb für seine Arbeit unter den Heiden. Schon die Einzelbekehrung eines Juden wertete der Apostel als Gewinn seiner Mühen.
Nochmals wendet sich sein Blick in die Zukunft. Wenn schon der Ausschluss der Juden vom Gottesreich der äußere Anlass zur Versöhnung und Erlösung der Heidenwelt wurde, dann muss die Wiederaufnahme in das Gottesreich wie eine Totenerweckung wirken und dem christlichen Leben einen mächtigen Auftrieb geben.
Eine Wiederaufnahme tritt sicher ein, weil Israel ein heiliges Volk ist und es trotz aller Untreuen bleibt. Paulus drückt diesen Gedanken durch ein Bild aus, das dem mosaischen Gesetz entnommen ist. Wenn das Erstlingsbrot heilig ist, dann ist es auch die ganze Masse. Nach dem Gesetz (4. Mos. 15, 19) mussten von der neuen Weizenernte zwei Brote am Pfingstfest im Tempel des Herrn geweiht werden. Vorher durfte von der neuen Ernte nichts genossen werden. Durch diese Weihe wurde die ganze Ernte geheiligt. Ebenso musste von jeder größeren Teigmenge ein Erstlingsteil dem Herrn dargebracht werden; dadurch wurde die ganze Teigmasse geheiligt. Dieses Gesetz wendet der Apostel nun auf die Patriarchen und das ganze Volk Israel an. Die Erstlingsbrote sind die Patriarchen, vor allem Abraham; die Teigmasse ist Israel. Die Heiligkeit der Patriarchen als Stammväter hat auch das ganze Volk geheiligt. Den gleichen Sinn hat auch das Bild von der heiligen Wurzel und den Zweigen. Israel ist ein Gott geheiligter Baum. Wenn auch einzelne Zweige schlecht sind und verderben, so wird dadurch der Charakter des Baumes nicht beeinflusst, da die die Wurzel heilig bleibt. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 100 – S. 102