Der Römerbrief Kap. 11 Vers 17-24

Warnung der Heidenchristen vor Selbstüberhebung

Paulus nimmt das zweite Bild von der Wurzel und den Zweigen zum Anlass, auch den Heidenchristen, die zur Selbstüberhebung versucht sein konnten, als seien sie ihres Heiles gewiß, ein ernstes Wort zu sagen. Der edle Ölbaum ist das auserwählte Volk des Alten Bundes. Das Bild ist schon bei den Propheten gebräuchlich (vgl. Jer. 11, 16; Os. 14, 7), und als der häufigste Fruchtbaum Palästinas, der der Landschaft ihr Gepräge gibt, ist der Ölbaum ein passendes Sinnbild für das in Kanaan lebende Volk. Das Heidentum ist der wilde Ölbaum. Israel ist trotz des Abfalls vieler eine edler Ölbaum geblieben; denn die heilige Wurzel heiligt den ganzen Baum. Das von Paulus gewählte Bild, dass ein wildes Reis auf einen edlen Stamm aufgepfropft wird, ist ein ungewöhnlicher Vorgang. Man pfropft umgekehrt ein edles Reis auf einen wilden Stamm, um diesen zu veredeln.

Der Apostel kehrt mit Absicht das Verhältnis um. Gott hatte von dem edlen Stamm einige Zweige ausgebrochen, die treulos gewordenen Glieder des auserwählten Volkes von der Gemeinschaft des messianischen Reiches ausgeschlossen, und Zweige von einem wilden Ölbaum an deren Stelle aufgepfropft, damit sie Anteil an dem Lebenssaft haben sollten, der von der heiligen Wurzel aufsteigt. So wenig ein Zweig sich selbst aufpfropfen kann, so wenig ist die Aufnahme der Heiden in die Kirche ihr eigenes Verdienst. Darum kann das aufgepfropfte Reis sich nicht gegenüber den ausgebrochenen Zweigen brüsten; der Heidenchrist hat kein Recht, über die ausgeschlossenen Juden sich zu erheben. Die wilden Zweige sind gegen ihre Natur auf den edlen Stamm aufgepfropft, während Israel von Natur aus zu dem Stamm, zum Reich Gottes, gehört. Denn das Gottesvolk des Alten Bundes ist die Grundlage, auf dem das neue Gottesreich aufbaut. Der Zweig wird von der Wurzel getragen, nicht die Wurzel von dem Zweig. Der Heidenchrist lebt in mannigfacher Beziehung von dem, was der Alte Bund in das neue Gottesreich gebracht hat, das Heidentum dagegen hat zum Christentum nichts beigetragen.

Der Heidenchrist hat um so weniger Anlass, sich den Juden gegenüber des Heiles zu brüsten, weil auch er dieses Heiles noch verlustig gehen kann. Paulus gibt – im Bild bleibend – zu, dass die Zweige ausgebrochen wurden, damit an deren Stelle der Wildling aufgepfropft würde. Er hat ja oben im 10. Kapitel gezeigt, dass Gott die Verstockung der Juden zuließ, weil sie die Heidenmission förderte. Dennoch ist für die Heidenchristen kein Grund zur Überheblichkeit.

Die Juden wurden nicht deshalb verworfen, weil sie Juden waren, sondern weil sie den Glauben an Christus abgelehnt hatten; ihre Verwerfung ist eine Folge ihres Unglaubens, ist also persönliche Schuld. Die Heiden andererseits wurden nicht wegen persönlicher Verdienste zur Kirche berufen; sie sind in der Parabel des Herrn die Bettler am Weg, die aus freiem Willen des Herrn zum Hochzeitsmahl hinzu gezogen wurden. Bei ihnen kann noch weit weniger von einem Verdienst gesprochen werden als bei den Juden. Die Heiden wurden berufen und aufgenommen, nicht weil sie Heiden waren, sondern weil sie mit der Gnade Gottes an die Frohbotschaft von der Erlösung durch Christus glaubten.

Der Glaube ist aber kein Verdienst, sondern ein Gottesgeschenk, das der Mensch auch wieder verlieren kann. Der Christ steht und fällt mit seinem Glauben; er steht nicht aus eigener Kraft. Dem Hochmütigen entzieht Gott seine Gnade und läßt ihn fallen. Darum hat der Heidenchrist keinen Anlass, sich zu überheben, als ob er Gottes Liebling sei. Vielmehr hat er allen Grund, demütig zu sein und sein Heil in Furcht und Zittern zu wirken. Das Schicksal des auserwählten Volkes ist für sie eine ernste Mahnung und Warnung. Hat Gott die von Natur gewachsenen Zweige des Ölbaums die leiblichen Nachkommen der Patriarchen, nicht geschont, obwohl sie Glieder des auserwählten Volkes waren, so wird er noch weniger Schonung kennen, wenn der aus Gnade aufgepfropfte Wildling versagt.

Das Verhalten Gottes gegen Juden und Heiden ist wert, Gegenstand ernster Erwägung zu sein. Die gefallenen Juden erfahren gegenwärtig die Strenge des göttlichen Gerichtes, die Heiden aber den Reichtum der Gnade. Aber diese Güte kann sich in Strenge verwandeln und zur Verwerfung führen, wenn der Heidenchrist sich ihrer unwürdig zeigt. Gott selbst ändert sich nicht; er ist unendliche Güte und strenge Gerechtigkeit. Aber der Mensch kann sich ändern. Wenn ein Mensch aus dem flutenden Sonnenlicht in einen finsteren Keller hinab steigt, dann hat nicht die Sonne aufgehört zu scheinen; er selbst hat sich ihren leuchtenden Strahlen entzogen. Der Apostel weiß nichts von absoluter Heilsgewissheit. Er betont immer wieder, dass auch der Christ um sein Heil fürchten muss, solange er lebt, dass ihm das demütige Bewusstsein ziemt, ganz von Gottes Gnade und Liebe abhängig zu sein.

Die Heidenchristen haben auch deshalb keinen Grund, sich zu überheben, weil Israel von Gott wieder in Gnaden aufgenommen werden kann, sobald es seinen Unglauben aufgibt. Der Herr hat die Macht, die ausgebrochenen Zweige wieder aufzupfropfen. Es ist doch leichter, die echten Ölzweige wieder mit dem Baum zusammen wachsen zu lassen als fremde Zweige. Hat er, wunderbar genug, fremde Zweige aufgepfropft, wieviel mehr wird er es mit den eigenen tun. Damit ist die zuversichtliche Hoffnung auf die Bekehrung der Juden ausgesprochen, die im letzten Abschnitt zur Gewissheit göttlicher Offenbarung wird. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 102 – S. 104