Der 2. Petrusbrief

Der zweite Petrusbrief (Kap. 2, Vers 13-16): Die Schamlosigkeit der Irrlehrer

Das düstere Bild wird weiter ausgeführt, wobei die Farben immer noch vorwiegend dem Judasbrief entnommen sind. Während der Orientale die Hauptmahlzeiten und Festlichkeiten auf den Abend verlegt, gilt es den Libertinisten als besondere Lust, am hellen Tage zu schlemmen. Arbeitsscheu und Sinnenlust gehen meist zusammen. Bei den Gelagen benehmen sie sich in einer Weise, dass sie als „Schmutzfinken und Schandflecken“ den übrigen zur Schmach gereichen. Die gemeinsamen Mahlzeiten mit den noch anständigen und unverdorbenen Mitgliedern der Gemeinde sind ihnen eine willkommene Gelegenheit, um ungehemmt ihren Betrügereien oder Verführungskünsten zu frönen. Sie lassen sich also gerne einladen, leben und zechen auf Kosten anderer und verführen diese zum Dank dafür. Der lateinische Text spricht hier von den Agapen, den gemeinsamen Liebesmahlen der Christen, wovon auch Jud. 12 die Rede ist. Der religiöse Charakter dieser Mahlzeiten läßt die Schamlosigkeit der Irrlehrer in noch hellerem Licht erscheinen.

Jeder gewissenhafte Christ, ja jeder sittlich hoch stehende Mensch weiß, dass er seine Blicke zügeln muss, damit nicht die Begierde geweckt wird. Ist doch schon der bewußte begierliche Blick schwer sündhafte Unzucht oder bei den Verheirateten Ehebruch (Matth. 5, 28). Darum gesteht Job, er habe mit seinen Augen ein Bündnis geschlossen, dass er nicht nach einer Jungfrau schauen wolle (Job 31, 1). Die Irrlehrer dagegen „haben die Augen voll von der Ehebrecherin“. Ständig steht das Bild eines Weibes, mit dem sie Ehebruch getrieben haben oder treiben wollen, vor ihren ihren Blicken, so dass sie nichts anderes sehen als den Gegenstand ihrer ungezügelten Begierde. Das Auge davon abzuwenden, fällt ihnen gar nicht ein; die unersättliche Lüsternheit hält sie im Dauerzustand der Sünde fest.

Jede Frau, die sie sehen, erniedrigen sie wenigstens dem Willen nach zum Gegenstand ihrer Lust. Dass sie auch in der Frau einen gleichberechtigten Menschen, ein Gotteskind und eine von Christus erlöste Mitschwester vor sich haben, der sie Ehrfurcht schulden, dafür fehlt ihnen das Sehvermögen. Dem schwachen, dem im Glauben und in der Tugend noch Ungefestigten, soll der verantwortungsbewußte Christ Halt und Stütze sein; die Irrlehrer dagegen locken die haltlosen Seelen an sich und ködern sie für das Böse. Und da ihr Sündenleben große Summen fordert, sie aber das Geld nicht durch ehrliche Arbeit verdienen wollen, ist ihnen jedes Mittel recht, das ihnen Gewinn verspricht. Im Ausfindigmachen solcher Mittel und in der zweckentsprechenden Anwendung haben sie es zur Meisterschaft gebracht. Durch ihr gewissenloses Treiben laden sie jedoch den Zorn des gerechten Gottes so sicher auf sich, dass der Fluch gleichsam ihr Vater ist, dem sie als „Kinder des Fluches“ naturhaft verfallen sind, während die wahren Christen „Kinder des Lichtes“ heißen (Eph. 5, 8; 1. Thess. 5, 5), dazu berufen, „den Segen zu erben“ (1. Petr. 3, 9).

Im Judasbrief wird das den Irrlehrern drohende Verderben mit drei Beispielen aus dem Alten Testament belegt. (Jud. 11); Petrus begnügt sich mit dem Hinweis auf Balaam. Ehedem wandelten die Sektierer gleich den übrigen Gläubigen auf dem „geraden Weg“, auf dem Weg der Wahrheit und der Gerechtigkeit, wie ihn die Lehre Christi zum Ziel der ewigen Seligkeit hinweist. Aber dieser Weg paßte ihnen nicht, weil er unbequem ist; der bequeme Weg erwies sich jedoch als Irrweg, der ins Verderben führt (Matth. 7, 13). Der Hauptbeweggrund zum Verlassen des geraden Weges war Habsucht. Wie Balaam um des Lohnes willen, den ihm der Moabiter-König Balak versprach, bereit war, Israel zu verfluchen, statt es zu segnen, so sind die Irrlehrer „dem Weg Balaams“ gefolgt, weil sie ebenfalls sich durch Gewinnsucht zur Gesetzlosigkeit verleiten ließen. Der Name des Vaters Balaams lautet sonst Beor. Ein Verschreiben oder Verlesen von Beor in Bosor oder auch umgekehrt war in der hebräischen Schrift leicht möglich

Trotz des göttlichen Verbotes machte sich Balaam auf den Weg, um sich durch die Verfluchung Israels den reichen Lohn Balaks zu sichern. Dreimal stellte sich im der Engel des Herrn in den Weg, ohne dass der Prophet ihn sah; aber seine Eselin ging nicht weiter. Nach dreimaligen Schlägen fing sie mit menschlicher Stimme zu reden an, machte ihrem unvernünftigen Herrn schwere Vorwürfe und bewahrte ihn so vor großem Unheil (4. Mos. 22-27)… –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI/1, 1950, S. 312 – S. 313