Der Judasbrief
Warnung vor Irrlehrern und Spöttern (Vers 12-13): Die nähere Kennzeichnung der Irrlehrer
Die beiden Mittelverse 12 und 13 enthalten eine schonungslose Demaskierung der Irrlehrer. Die gedrängte Kürze fällt auf. Wie Schlaglichter heben diese Urteile das abstoßende Bild der Männer aus dem Dunkel heraus, worin sie bisher ihre wahren Absichten zu verbergen wußten. Kein Wunder, dass Petrus mehrere Ausdrücke aus der Schilderung übernommen hat (2. Petr. 2, 13, u. 17). Die Agapefeiern der Gemeinde, durch die Erinnerung an das Abschiedsmahl des Herrn geheiligt und als Sinnbild der familienhaften Zusammengehörigkeit veranstaltet, werden von den Irrlehrern schamlos entweiht und zu bloßen Schmausereien oder Trinkgelagen erniedrigt. Es geht ihnen nur darum, „sich selber zu weiden“. So werden sie zu Schandflecken oder auch durch ihr Ärgernis erregendes Benehmen zu verborgenen Klippen, an denen die anderen scheitern, statt erbaut zu werden.
Das griechische spilades läßt diese Doppeldeutung zu. Die Irrlehrer scheinen eine solche Stellung inne gehabt zu habe, dass viele Glieder der Gemeinde von ihnen den Segen religiöser Belehrung und Förderung erwarteten, wie der Landmann von den aufsteigenden Wolken Regen für die Saaten erhofft; aber es sind nur Nebelschleier, die der Wind verjagt. Nur leere Worte sind ihre Lehren, es fehlt ihnen jeder Gehalt. Wie Bäume stehen sie da, an denen man im Spätherbst vergeblich Früchte sucht. Nicht nur die Blätter sind abgefallen, bis in die Wurzel sind sie verdorrt. Das in der Verbindung mit Christus durch die Taufe erstmals erworbene Leben der Gnade haben sie wiederum verloren, sind also „zweimal gestorben“. Ihre Wurzeln sind aus dem Boden gerissen, der allein Wachstum und Fruchtbarkeit sichert, nämlich aus dem Boden der Gemeinschaft mit Christus (Joh. 15, 2ff). Deshalb wartet ihrer das Schicksal des unfruchtbaren Baumes (Matth. 3, 10; 7, 19; 21, 19; Luk. 13, 6ff), der „zweite Tod“ der ewigen Verdammung (Offb. 2, 11; 20, 6 u. 14; 21, 8).
All der Unrat des Herzens bleibt nicht im innern der „Gottlosen“ verschlossen (Matth. 15, 18f; 23, 27f). Wie brandende Meereswogen Schlamm und Fäulnis ans Ufer werfen, so schäumt Schmutz und Schande aus ihnen aus. Die ruhelose Brandung ist zugleich ein treffendes Bild des aufgewühlten Gemütes, solange noch nicht der schlimmste Zustand eingetreten ist: die Friedhofsstille des erstorbenen Gewissens. Darum fügt Isaias dem gleichen Bild vom ständig wogenden, Schlamm und Verwesung auswerfenden Meer die Bemerkung bei: „keinen Frieden haben die Gottlosen“ (Is. 57, 20f). Während die Lehrer der Wahrheit, „die viele zur Gerechtigkeit geführt haben, strahlen wie die Sterne in alle Ewigkeit“ (Dan. 12, 3), so dass die Menschen sich an ihrem Licht zuverlässig orientieren könnten, gleichen die Irrlehrer den kurz aufleuchtenden, dann aber in dichtester Finsternis verschwindenden Irrsternen. Mancher Gottlose mag sich für einen großen Stern halten und ist doch nur ein Komet oder eine Sternschnuppe. Der Gerechte geht zum Lohn ins ewige Licht ein, der Gottlose dagegen ins unheimliche, nie endende Dunkel.
Im Offertorium der Totenmesse fleht darum die Kirche, dass die Seelen der verstorbenen Gläubigen „nicht hinab stürzen in die Finsternis“, dass vielmehr „Sankt Michael, der Bannerträger, sie geleite in das heilige Licht“. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI/1, 1950, S. 346 – S. 347