Der Judasbrief
Warnung vor Irrlehrern und Spöttern (Vers 10-11): Die Frechheit der Irrlehrer
Gegenüber der Bescheidenheit des Himmelsfürsten Michael hebt sich die Frechheit der Irrlehrer unvorteilhaft ab (2. Petr. 2, 12). Es fehlt ihnen jede Befähigung, über die Geisterwelt und die himmlischen Dinge überhaupt ein Urteil abzugeben. Ihre Lästerreden verraten ihre Unwissenheit; denn je mehr einer von etwas versteht, desto bescheidener und sachlicher spricht er davon. Nur der Geist Gottes erkennt, was in Gott ist (1. Kor. 2, 11); dieser Geist aber geht den „Gottlosen“ gänzlich ab (Vers 19). Nicht einmal im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren übersteigt ihre Kenntnis jene der vernunftlosen Tiere; denn die Irrlehrer lassen sich nur von ihren Begierden leiten wie die Tier vom Instinkt (vgl. Ps. 49 [48], 13 u. 21). Wird aber den ungeordneten Trieben kein Zügel durch die Vernunft und den Willen angelegt, achtet der Mensch nicht mehr auf das Naturgesetz und die Gottesgebote der Offenbarung, so reißen ihn die Leidenschaften in den Abgrund wie ungebändigte Rosse den Wagen (vgl. Röm. 1, 24; 1. Kor. 6, 12). Er wird tierischer als das Tier. Nicht dass der Gesetzesverächter durch Maßlosigkeit die Gesundheit seines Leibes zugrunde richtet, ist das Schlimmste, sondern dass er zur Strafe im „Gericht des großen Tages“ (Vers 6) auch dem ewigen Verderben überantwortet wird.
Wie eine Vorwegnahme des letzten Richterspruches und zugleich wie eine ernste Warnung davor klingt das „Wehe ihnen!“ Darin „erreicht die Entrüstung des Judas ihren Höhepunkt“ (Joseph Chaine). Drei alt-testamentliche Typen der Gottlosigkeit sollen den Lesern dartun, wen sie in den Irrlehrern vor sich haben und welches ihr Los sein wird, aber auch das Los derer, die sich ihnen anschließen. Diese Typen sind Kain, Balaam und Kore. Wie Kain aus Neid den Bruder gemordet hat, so werden die Verführer zu Seelenmördern ihrer Brüder. Aber der Hinweis auf Kain will zunächst etwas anderes sagen: Kain hat Gott frech ins Angesicht getrotzt, ließ sich von seinem selbstsüchtigen Verlangen leiten und zügelte seine Begierden nicht (1. Mos. 4, 7). Er ist der Mensch ohne Liebe, der herzlose Egoist, während die wahre Jüngerschaft Jesu die gegenseitige Liebe zum Merkmal hat (Joh. 13, 35) und ein echter Christ sich für seine Brüder mitverantwortlich fühlt (Röm. 1, 14). Das Kainszeichen und das Kreuz Christi vertragen sich nicht nebeneinander.
Balaam hat aus schmutziger Gewinnsucht das Volk Israel zu heidnischer Unzucht verführen lassen und die von Gott verliehene Prophetengabe schmählich missbraucht (4. Mos. 31, 16; Offb. 2, 14). Gerade vor solchen, die alles als erlaubt hinstellen und den eigenen Beruf entweihen, wenn es ihnen nur Gewinn einbringt, muss das gläubige Volk auf der Hut sein. Kaum etwas untergräbt so sehr die Achtung vor der Religion wie das Treiben religiöser Geschäftemacher, auch wenn sie in Prophetenmantel auftreten (Apg. 8, 18ff.; 1. Tim. 6, 5; 2. Petr. 2, 15f). Es ist darum begreiflich, dass Balaam in der jüdischen Überlieferung zum Ausbund der Schlechtigkeit und Verkommenheit geworden ist.
Dem Anführer Kore gleichen die Irrlehrer, weil ihr maßloser Geltungstrieb, ihre Kritiksucht und Unbotmäßigkeit sie in stetem Widerspruch zur gottgesetzten Obrigkeit in der Gemeinde bringt (4. Mos. 16, 1ff). Wohin das führt, sieht Judas so deutlich voraus, dass er in prophetischem Sprachgebrauch das künftige Schicksal der Irrlehrer als Vergangenheit hinstellt: „sie sind durch die Empörung des Kore umgekommen“, der Vernichtung im Gericht Gottes anheim gefallen. Wie richtig der Verfasser die Irrlehrer beurteilt, bezeugt in der weiteren geschichtlichen Entwicklung die Sekte der Kainiten, die auch Kore als ihren Geistesverwandten verehrte (Irenäus, Gegen die Häresien, I 31, 1). Als vorbildlich darf die Art und Weise gelten, wie Judas hier das Alte Testament verwendet: Es ist ihm „ein lebendiges Buch geworden, in dessen Gestalten er die Menschen seiner eigenen Zeit wieder erkennt. In den Motiven, die jene bewegten, heißt er sie Göttliches und Widergöttliches erkennen und zum Maßstab verwenden, um Menschen der eigenen Gegenwart im Lichte Gottes zu beurteilen“ (Friedrich Hauck, Brief des Judas, in: Die Katholischen Briefe, Göttingen 1935, 106). –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI/1, 1942, S. 345 – S. 146