Der Judasbrief

Warnung vor Irrlehrern und Spöttern (Vers 9): Es stritt der Teufel mit dem Engel

Als beschämendes Gegenbeispiel führt Judas das Verhalten des Erzengel Michael an, des Heerführers der guten Engel im Kampf gegen den Satan und seinen Anhang (Offb. 12, 7 bis 9). Dieser erhabene Fürst des Himmels bewahrte sogar dem Teufel gegenüber eine so vornehme Zurückhaltung, dass er ihn nicht lästerte, sondern das Gericht dem gerechten Gott anheim stellte. In solcher Beherrschtheit verrät sich wahre Größe, wie sie jeden Christen zieren soll.

Das Ereignis, das hier zur Beweisführung heran gezogen wird, ist nirgendwo in der Bibel berichtet, aber die jüdische Überlieferung sah im Teufel den Erzfeind des Volkes Gottes. Er ist stets darauf bedacht, die Frommen vor Gott zu verklagen (Job 1, 6ff; Zach. 3, 1ff; 1. Chron. 21, 1; Luk. 22, 31; Offb. 12, 10). Michael dagegen tritt als Schirmer der Gerechtigkeit auf. Er ist Israels Schutzgeist (Dan. 10, 13 u. 21; 21, 1) und wird darum auch als Schutzengel des neu-testamentlichen Gottesvolkes der Kirche verehrt. Das spätjüdische Schrifttum liebte es, die Rolle des Erzengels Michael als Schutzgeist Israels auszuschmücken (Strack-Billerbeck III 786f. 813).

Nun bemerken Klemens von Alexandrien, Origenes und Didymus, die Worte Michaels im Judasbrief seien in der apokryphen Schrift „Himmelfahrt des Moses“ enthalten. Wir kennen aus ihr nur Bruchstücke. Ob Judas dieses Werk benutzt hat, wissen wir nicht. Er konnte das Beispiel und Zitat auch aus der Überlieferung kennen, etwa aus dem haggadischen Midrasch der Rabbinenschulen, und durfte es gegenüber judenchristlichen Lesern zur Beweisführung verwenden, ohne dadurch etwas über die Geschichtlichkeit auszusagen, wie wir etwa ein Zitat aus dem Nibelungenlied gebrauchen, um einen Gedanken zu veranschaulichen, dadurch aber keineswegs die Nibelungensage als geschichtlichen Bericht hinstellen wollen. Petrus, der an heidenchristliche Leser schrieb, hat die Einzelheiten fortgelassen und sich trotz der engen Anlehnung an den Judasbrief mit dem bloßen Hinweis auf das Vorbild der Engel im allgemeinen begnügt (2. Petr. 2, 11). In der Bibel werden nur der Tod des Moses, die Bestattung und das Unbekanntsein seines Grabes erzählt. (5. Mos. 34, 5f). An den Text: „Er (Jahwe) begrub ihn“ knüpfte die rabbinische Überlieferung an und erweiterte ihn legendär. So heißt es in der slawischen Mosessage: „Denn es stritt der Teufel mit dem Engel (dem Archistrategen Michael), und er gestattete nicht, seinen Leib zu begraben, indem er sprach: Moses ist ein Mörder, er schlug einen Mann in Ägypten und verbarg sich im Sande. Da flehte Michael zu Gott, und es ward Donner und Blitz, und plötzlich verschwand der Teufel. Michael aber begrub ihn mit seinen (eigenen) Händen“ (Bei Hans Windisch, Die Katholischen Briefe 43).

Aus der kurzen Notiz über den Kampf Michaels mit dem Teufel um den Leib des Moses im Judasbrief hat Goethe das Motiv zum Kampf zwischen den guten und bösen Geistern um die Seele Fausts im fünften Akt des zweiten Teils des „Faust“ entnommen, wie ihn der Prolog im Buch Job zum „Prolog im Himmel“ angeregt hat. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI/1, 1942, S. 344 – S. 345