Der Judasbrief
Warnung vor Irrlehrern und Spöttern (Vers 5-8): Beispiele der göttlichen Strafgerechtigkeit
Judas legt nun näher dar, dass die Irrlehrer längst von Gott erkannt und verurteilt sind. Damit sagt er den Lesern nichts Unbekanntes. Aus den früheren Unterweisungen wissen sie nicht nur das, woran er sie jetzt erinnert, sondern alles, was ihnen zu wissen zum Heil notwendig ist. Die urchristliche Katechese ist also sehr gründlich gewesen und begnügte sich nicht mit der Weckung religiöser Gefühle. Zuerst führt Judas drei Beispiele der göttlichen Strafgerechtigkeit aus der Geschichte des Alten Testamentes an: das Gericht an den Israeliten in der Wüste (Vers 5), an den bösen Engeln (Vers 6) und an den sündigen Pentapolis (Vers 7). Besonders beim Durchgang durchs Rote Meer hatte Gott seine Wundermacht offenbart, um Israel, das als Volk Gottes „das Volk“ schlechthin genannt wird, aus der Knechtschaft Ägyptens zu befreien. Als dann aber die Geretteten sich in der Wüste halsstarrig und ungläubig zeigten, hat er alle Schuldigen umkommen lassen und nicht ein zweites Mal Nachsicht geübt (4. Mos. 14, 1ff; 5. Mos. 2, 14ff; 1. Kor. 10, 1ff; Hebr. 3, 8ff). Das sollen sich die Irrlehrer merken. Weder ihr Eintritt in die Kirche durch die Taufe, deren Vorbild der Zug durchs Rote Meer ist, noch alle daran anschließenden Gnaden retten sie vor dem Verderben; wenn sie nicht an der Wahrheit festhalten, werden sie niemals das Land der ewigen Verheißung betreten. In wichtigen Textzeugen, auch in der lateinischen Übersetzung, steht statt „der Herr“: „Jesus“. Die Übertragung alt-testamentlicher Heilstaten von Jahwe auf den präexistenten Christus ist zwar nichts Außergewöhnliches (1. Kor. 10, 4; Justin Dialog 120, 3), aber die Lesart „der Herr“ dürfte hier ursprünglich sein und sich auf Gott, nicht auf Christus beziehen.
Die nähere Kenntnis der angeführten Beispiele setzt Judas voraus und faßt sich so kurz, dass besonders der sechste Vers für uns dunkel bleibt. Auch aus 2. Petr. 2, 4, wo offensichtlich dasselbe Ereignis gemeint ist, läßt sich keine volle Klarheit gewinnen. Dem Verfasser war das Henochbuch bekannt (Vers 14f), aber es ist nicht nachweisbar, dass er hier auf die im Henochbuch geschilderte Sünde der Engel mit den Menschentöchtern und die darauf folgende Fesselung anspielt (Henoch 9, 8f; 10, 4ff; 12, 4ff; 54, 5; Ausgabe E. Kautzsch). Auch 1. Mos. 6, 2 bis 4 kommt nicht als Engelsünde in Betracht; eher ist an Isaias 24, 21f. zu denken. Die zur höchsten Herrscherwürde erhobenen Engel lehnten sich stolz gegen Gott auf und wurden zur Strafe aus dem Himmel in den Abgrund gestürzt. Jesu Wort: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Luk. 10, 18), wurde von den Vätern oft auf diesen Sturz bezogen, ist aber wohl von der Austreibung der Dämonen durch die Jünger zu verstehen. Isaias (14, 12ff) und Ezechiel (28, 12ff) sprechen dem Wortsinn nach nicht von Engeln; Offb. 12, 7 bis 9 ist endzeitlich zu verstehen. Wenn einst der „große Tag“ oder der „Tag des Herrn“ anbricht, wird der „alleinige Gebieter und Herr Jesus Christus“ die Irrlehrer, die nun seine Macht leugnen, bestrafen, wie die gefallenen Engel alsdann ihre endgültige Strafe empfangen werden. Ein Entrinnen aus der ehedem über sie verhängten Haft im finsteren Kerker der Unterwelt gibt es nicht. Fesseln, in die der Allmächtige die Frevler legt, vermag niemand zu sprengen.
Eines der bekanntesten und unwiderleglichsten Zeugnisse für die göttliche Strafgerechtigkeit ist der Untergang von Sodoma und Gomorrha. Seit Moses schon gelten diese Städte als abschreckendes Beispiel menschlicher Verkommenheit (5. Mos. 29, 23; Is. 1, 9f; 3, 9; Jer. 23, 14; Matth. 10, 15; 11, 23ff; Röm. 9, 29; 2. Petr. 2, 6; Offb. 11, 8 u. ö.). Gleich ihren Bewohnern – nicht gleich den gefallenen Engeln, wie manche verbinden wollen – haben auch die Nachbarstädte Adama und Seboim widernatürliche Unzucht, „Sodomie“, getrieben und darum dieselbe Strafe empfangen (1. Mos. 19, 4ff). Nur Bala (Segor) blieb verschont. Schwefeldämpfe und Asphaltquellen am Toten Meer wecken die Vorstellung, das Feuer, das die Städte zerstörte, brenne unter der Erde immer noch (Weish. 10, 6f); es ist zum Symbol des ewigen Höllenfeuers geworden (Offb. 19, 20; 20, 10; 21, 8).
Das furchtbare Schicksal Israels in der Wüste, der bösen Engel und der Pentapolis hätte die „Gottlosen“ warnen müssen; aber sie fahren fort in ihrer scheußlichen Unzucht. Es ist, als sei ihr klares Denken ausgeschaltet wie bei jemand, der träumt oder im Rauschzustand der Sinne dahin treibt (Is. 29, 9f). Vielleicht spielt der Titel „Träumer“ auch auf angebliche prophetische Ekstasen an, worauf sich die Irrlehrer beriefen, um ihren Libertinismus und Antinomismus zu begründen (5. Mos. 13, 1ff; Apg. 2, 17). Sie wissen nur zu gut, dass ihre Ausschweifungen in krassem Widerspruch zu den Geboten Gottes und den sittlichen Forderungen Christi stehen. Darüber setzen sie sich jedoch frech hinweg und „verachten die Herrschaft“ des Gottmenschen (vgl. 2. Petr. 2, 10). Völlig den Trieben des Fleisches verhaftet, empfinden sie die bloße Existenz reiner Geister, an deren Leben die Seligen einst teilhaben sollen (Mark. 12, 25 u. Part.), als Vorwurf. Deshalb lästern sie diese Engel, die als Thronassistenten der Majestät Gottes „Herrlichkeiten“ genannt werden. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI/1, 1950, S. 342 – S. 344