1. Brief des hl. Johannes Kap. 4 Vers 10-11
Gottes Liebe ist reine, selbstlose Hingabe
Aber damit ist noch nicht alles gesagt vom Wesen dieser Liebe. Denn sie übersteigt nicht nur der Fülle nach unendlich alle menschliche Liebe, ja alle unsere Begriffe von Liebe, sondern ihre ganze Art ist anders. „Darin besteht die Liebe, nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühnopfer für unsere Sünden gesandt hat.“ Menschliche Liebe ist nämlich ihrer Natur nach etwas Gegenseitiges, ein gegenseitiges wechselndes Geben und Nehmen in irgend einer Form. Wir können gar nicht anders lieben. Denn unser Liebesverlangen ist nichts anderes, als jener aus der Beschränktheit unseres Seins und Lebens hervor brechende Eros, der unbezwingliche Trieb, unser eigenes in Schranken eingesperrtes Sein und Leben zu bereichern bzw. dessen Schranken zu durchbrechen, indem wir ein anderes Sein und Leben in uns hinein nehmen oder uns selber in dasselbe hinüber werfen. Gott braucht das nicht. Sein unendliches Sein genügt ihm und füllt ihn aus von Ewigkeit zu Ewigkeit. Nicht um sich selbst innerlich zu bereichern, hat er uns geliebt. Seine Liebe ist reine, selbstlose Hingabe, die nicht empfängt, gar nicht empfangen kann, sondern nur gibt. Ja das zeigt sich in geradezu krasser Weise in der Art, wie sie sich äußerte.
Wir haben ihm nicht nur keine Liebe angeboten unsererseits, sondern wir standen feindlich gegen ihn durch unsere Sünden. Und trotzdem, ja vielmehr, eben deshalb hat er seinen Sohn gesandt, damit dieser das Äußerste tue, was die Liebe überhaupt zu tun vermag, daß er sich gänzlich in den Tod gebe für uns, und zwar nicht als Gegenleistung für unsere Liebeserweise, sondern als Opfer für das an uns, was naturgemäß Gottes, des unendlich Gerechten, Zorn hervorrufen muss, für unsere Sünden. –
Tatsächlich, wenn man sich betrachtend in diese Wahrheit versenkt, dann kommt man mit seinem Denken nicht mehr mit. Aber eines leuchtet ein: Trotz allem Dunkel, da Gottes Walten in der Natur und Geschichte für unsere beschränkte Einsicht an sich hat, hat der heilige Johannes doch recht: „Gott ist Liebe.“ Der heilige Paulus behandelt im 5. Kapitel des Römerbriefes ähnliche Gedanken und zieht daraus Schlussfolgerungen für unser Vertrauen auf Gott. Ja wir haben wirklich viel zu wenig Vertrauen auf Gott, weil wir viel zu sehr an unseren Sünden und unserer eigenen Unzulänglichkeit hängen bleiben. Und manche Prediger und geistliche Bücher hüten und fördern geradezu diesen Mangel an Vertrauen aus übertriebener Angst, wir könnten sonst noch mehr sündigen. Und doch würde das richtige, auf Gottes unbegreifliche Liebe gegründete Vertrauen auch ganz von selbst unsere Liebe zu Gott wecken. Aus der Liebe aber zu Gott fließt eine viel stärkere Kraft zur Überwindung der Sünde, als täglich wiederholte Höllen-Betrachtungen sie zu geben vermöchten.
Wer Gott liebt, liebt auch den Nächsten
Der heilige Johannes zieht einen anderen Schluss aus diesen Betrachtungen: „Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, dann sind auch wir verpflichtet, einander zu lieben.“ Das ist wieder recht bezeichnend für die Art, wie Johannes seine Gedanken weiter zu führen pflegt. Wir hätten als Folgerung erwartet: So sind auch wir verpflichtet, Gott zu lieben. Er aber geht sogleich über diese selbstverständliche Folgerung hinaus zu der weiteren: „Einander zu lieben“. Das tut er nicht nur deshalb, weil die Liebe Gottes zu uns ein mächtig unsere Nächstenliebe förderndes Beispiel darstellt, auch nicht nur deshalb, weil die Gottesliebe, wenn sie wirklich in einer Seele wohnt, ganz von selbst auch auf den Nächsten überfließt. Er hat vielmehr einen ganz anderen Gedanken dabei, den er im folgenden Vers ausspricht.
Zuvor jedoch ist der Ausdruck zu beachten: Wir sind verpflichtet, einander zu lieben. In Kapitel 3 hatte es einfach geheißen: „Wer aus Gott geboren ist, sündigt nicht“ bzw. „kann nicht sündigen“. Das hatte der Apostel, obwohl er sich der Tatsächlichkeit des Sündigens auch der aus Gott Geborenen bewußt war, geschrieben, um zu betonen, daß das in uns wohnende Prinzip der heiligmachenden Gnade an sich die Sünde ausschließt. Er hätte also hier ebenso gut in positiver Fassung schreiben können: „Wer Gott liebt, der liebt auch den Nächsten.“ Aber wenn auch die Gottesliebe tatsächlich ein zur Nächstenliebe drängendes Prinzip ist, so ist es eben doch keine Naturkraft, die von selbst und unwiderstehlich wirkt, wie etwa die Schwerkraft, sondern der menschliche Wille, der ihr sogar widerstehen und ihre Wirkung aufheben kann, muss sich mit ihr verbinden.
So wird die Bruderliebe, die bei den Seligen im Himmel eine Selbstverständlichkeit ist, für die Menschen auf Erden zur sittlichen Pflicht. Das ist aber an sich eigentlich kein Widerspruch. Denn die Liebe ist ihrem Wesen nach etwas Spontanes, etwas, das aus der ganzen inneren Einstellung von selbst heraus fließt. Die Pflicht aber ist etwas von außen her Gebotenes. Tatsächlich kann ich niemand auf Befehl lieben. Ich kann ihm höchstens auf Befehl Liebesakte erweisen, d. h. solche Akte, die ich einem, den ich wirklich liebe, von mir aus erweisen würde. Aber gerade dadurch, daß es auf Befehl geschieht, sind es keine Liebesakte mehr. Und ich gleite leicht in die fatale Selbsttäuschung hinein, als liebte ich den, dem ich diese Akte erweise.
Im praktischen Leben geschieht es deshalb auch nicht allzu selten, daß unter dem Zwang der Liebesakte verborgen und sogar durch seinen Druck begünstigt ein heimlicher Groll gegen den, den ich mir zu lieben einrede, immer mehr sich in mir auswächst. Unser christliches Liebesleben wird aber auf diese weise unbemerkt zur Unwahrheit und Heuchelei. „Wir sind verpflichtet zu lieben“ heißt also bedeutend mehr, als wir in der Praxis gelten zu lassen pflegen. Der Pflicht der Liebe hat der nicht genügt, der sich mit einzelnen Liebesakten, d. h. gelegentlichen Liebesdiensten, Almosen u. dgl., begnügt, selbst wenn er sie unter eigenen Opfern darbrächte.
Die christliche Liebespflicht verlangt vielmehr das aufrichtige Bestreben, uns dem Mitchristen gegenüber – denn um den handelt es sich bei der christlichen Bruderliebe – die gesamte innere Einstellung zu erwerben, aus der die Liebe von selbst hervor fließt. Von dieser inneren Einstellung handelt der Verfasser 5, 1ff. Das ist eben das Wesen des Christentums als der vollkommenen Religion: Wie es die Religion selbst, d. h. das Verhältnis des Menschen zu Gott, auf die persönliche innere Einstellung des Menschen zu Gott aufgebaut hat, so gründet es auch das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch auf die der Stellung zu Gott entsprechende persönliche innere Einstellung des christlichen Bruders gegenüber dem Bruder. Jedes Stehenbleiben auf einer mehr juristisch begründeten Stufe ist Fälschung des Christentums und richtig besehen ein Rückfall in Heidentum und Judentum. Hier kommt einem immer wieder erschreckend zum Bewusstsein, wie radikal das Christentum den ganzen Menschen in Beschlag nimmt und wie man auch am Ende seines Lebens schmerzhaft sich eingestehen muss: Ich bin noch kein Christ. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 508 – S. 510