1. Brief des hl. Johannes Kap. 4 Vers 19-20

Die christliche Religion ist die vollkommene Religion

Im Gegensatz zur Religion des Alten Bundes, die zurück geht auf die Gottes-Offenbarung am Sinai, wo Gott unter Donner und Blitz und schrecklichen Drohungen die zehn Gebote geoffenbart hat, ist ihre Gründungstat die Offenbarung des göttlichen Wesens Gottes als der Liebe, die Sendung seines eingeborenen Sohnes als Erlöser der Welt. Die Frucht aber von dessen Erlösertod besteht darin, dass dieselbe Liebe, mit der der Vater seinen Sohn geliebt hat, nun in denen wohnt, die seinem Sohn gehören (Joh. 17, 26). Diese in uns wohnende persönliche Liebe Gottes kann aber nichts anderes in uns wirken als wiederum Liebe. Sie bewirkt unsere Liebe zu Gott, die den Dekalog und damit die Furcht sozusagen aufhebt, weil sie ja aus innerem Drang das tut, was dort von außen her unter Strafandrohungen geboten war. Und da diese unsere übernatürliche Liebe ihrem Wesen nach identisch ist mit der sie bewirkenden Liebe Gottes zu uns – weshalb ja auch in der johanneischen Formel „die Liebe Gottes“ nie genau zu unterscheiden ist zwischen genetivus subiectivus und obiectivus -, muss sie naturgemäß auch ebenso umfassend sein wie die Liebe Gottes, also auf alles überströmen, was zu Gott gehört.

Deshalb verwandelt sie auch das Rechtsverhältnis gegenüber dem Nächsten in ein Verhältnis der Liebe. Weil, wie gesagt, das wirkende Prinzip unserer Liebe die Liebe Gottes zu uns ist, deshalb fügt der heilige Johannes den Satz hinzu: „weil er uns zuerst geliebt hat“. Durch das alles erweist sich allerdings die christliche Religion als die vollkommene Religion, über die hinaus eine noch vollendetere nicht mehr denkbar ist. Es ist freilich wiederum das Idealbild der christlichen Religion, das der heilige Johannes hier gezeichnet hat, und das erst im Himmel unter den vollendeten Seligen seine vollendete praktische Ausführung erreicht. Denn, wie schon bemerkt, die heiligmachende Gnade oder die in uns wohnende Liebe Gottes – denn beides sind nur verschiedene Ausdrücke für ein und dieselbe übernatürliche Wirklichkeit – ist kein Naturprinzip, das mit Naturgewalt sich auswirkt. Sondern dazwischen steht der freie Wille des Menschen, den auch die Gnade nicht aufhebt. Darum das obige: „Wir sind verpflichtet zu lieben“ (Vers 11).

Der Mensch des Alten Bundes genügte seiner Pflicht, wenn er die Rechtssatzungen des Mosaischen Gesetzes beobachtete und außerdem dessen rituelle Vorschriften genau erfüllte. Der Christ, der es sich genügen läßt, das Recht nicht zu verletzen und seine Gebete und religiösen Übungen zu halten, ist noch kein Christ, selbst wenn er da und dort einzelne Liebestaten, wie Spendung von Almosen u. dgl. hinzu fügt. Denn die Christenpflicht fordert bedeutend mehr: Sie verlangt das zähe Ringen um die oben besprochene innerste und aufrichtige Gesinnung und Einstellung der Liebe. Dann erst kann die ihm inne wohnende Liebe Gottes ihre übernatürliche Wirkung in ihm und an ihm entfalten.

Diese christliche Liebe, die also zunächst Liebe zu Gott ist, kann aber nur in dem vorhanden sein, der auch die Bruderliebe besitzt. Das spricht der Verfasser in der ihm eigenen scharfen Weise aus. „Wenn einer behauptet: ‚Ich liebe Gott‘, und seinen Bruder hasst, dann ist er ein Lügner.“ Einen dreifachen Beweis für diesen Satz bringt der heilige Johannes im Folgenden. Zunächst einen psychologischen: „Denn wer seinen Bruder, den er vor Augen hat, nicht liebt, der kann Gott, den er nicht gesehen hat,, nicht lieben.“ Es könnte ja jemand behaupten und auch wirklich selbst davon überzeugt sein, dass er Gott innig liebe. Als Beweis dafür könnte er sich auf die zarten, warmen Gefühle seiner Andacht berufen. Ja das sind Gefühle. Ob sie aber echte Liebe sind, Liebe, die ihrem Wesen nach Hingabe ist (vgl. 3, 16; 4, 9), das kann nur die Tat beweisen.

Gott aber, der keinem Menschen je sichtbar geworden ist, kann man keine solche Liebestat erweisen. Der Nächste, den „haben wir vor Augen“. Wörtlich: „wir haben ihn gesehen“, sehen ihn ständig wieder (griechisches Perfekt). Auf Schritt und Tritt stoßen wir bald auf einen notleidenden Bruder, der unserer liebevollen Hilfe bedarf, bald auf einen fehlenden, der unsere aus Liebe geborene Geduld in Anspruch nimmt. Wenn also hier unsere Liebe versagt, dann ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass sie eben nicht vorhanden ist.

Freilich könnte man dagegen einwenden: Man kann doch auch Gott unmittelbar, trotz seiner Unsichtbarkeit, Tatbeweise der Liebe geben. Wenn einer z. B. freiwillige Bußwerke verrichtet oder sein ihm von Gott auferlegtes Kreuz mit Ergebung und selbst mit Freude trägt. Aber auch in diesem Fall wäre erst zu fragen, ob wirkliche Liebe das eigentliche treibende Motiv ist. Denn das freiwillige Bußwerk kann auch veranlaßt sein durch die Furcht, von der wir uns einreden möchten, sie sei Liebe. Und eine ehrliche psychologische Analyse unserer Ergebung in Gottes heiligen Willen wird nicht allzu selten zu der Entdeckung führen, dass sie im Grunde nichts anderes ist, als die schon von den heidnischen Philosophen geübte Resignation oder innere Gelassenheit, die uns das Leiden eben so erträglich macht als möglich, nur dass wir, um es uns noch leichter zu machen, den Schein einer besonders tiefen Gottesliebe darüber gedeckt haben.

Wenn es aber wirkliche und in diesem Fall allerdings besonders starke freudige Gottesliebe ist, dann wird sie ganz von selber sich auch in der Liebestat am Nächsten erweisen. Denn das gehört zur Natur einer jeden edlen und tiefen Freude, erst recht der Liebesfreude an Gott, dass sie sich gar nicht im Innern festhalten läßt. Freilich, es kann jemand dem Nächsten auch rein äußerliche und scheinbare Liebestaten erweisen. Wenn einer z. B. nur deshalb einen von ihm sonst vernachlässigten Kranken besucht, weil er sich vorgenommen hat, heute zur Buße ein Liebeswerk zu verrichten, oder weil er den mit dem Krankenbesuch verbundenen Ablass gewinnen will. Aber solche Taten egoistischer Frömmigkeit würde der Liebesjünger Jesu nicht als Liebestaten gelten lassen. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 513 – S. 515