1. Brief des hl. Johannes Kap. 4 Vers 18-19
Die vollendete Liebe treibt die Furcht aus
„Furcht ist nicht in der Liebe. Sondern die vollendet Liebe treibt die Furcht aus.“ Eine gewisse Furcht haftet allerdings jeder menschlichen Liebe an, ja gehört zu deren Wesen. Auch wer sich in innigster Liebe mit einem anderen verbunden weiß, kann die Furcht vor der eigenen Unzulänglichkeit, die Furcht, die Liebe des anderen nicht in völliger Genüge erwidern zu können, nie ganz losbekommen. Ja hätte er sie gänzlich überwunden, so wäre das ein Zeichen dafür, dass seine Liebe abgenommen hat. Aber diese Furcht, die Furcht vor sich selber, meint der heilige Johannes nicht. Die wird und muss jeder Gottliebende haben, solange er noch nicht in der himmlischen Verklärung angelangt ist. Er spricht von der Furcht vor dem andern: „Weil die Furcht es mit Strafe zu tun hat.“ Diese Furcht braucht der allerdings nicht vor Gott zu besitzen, der bereits in dieser Welt so eins mit ihm ist, wie Christus es ist: „Wer sich also fürchtet, ist in der Liebe nicht vollendet.“
Hier hat der heilige Johannes freilich wieder das unerreichbare christliche Ideal vorgestellt. Denn keiner ist „in der Liebe vollendet“, weil eben keiner schon „in dieser Welt wie Christus ist“. Deshalb wird jeder ernste Christ auch tatsächlich mit mehr oder minder großer Furcht dem Tag des Gerichtes entgegen sehen. Und die Furcht vor sich selber muss naturnotwendig übergehen in Furcht vor dem andern, nämlich dem allgerechten und allgewaltigen Gott. Handelt es sich doch nicht nur um rein physische oder psychische Unzulänglichkeiten, die mit bestem Willen nicht auszugleichen sind, sondern sehr oft um einen nicht geringen Mangel gerade dieses guten Willens. Aber wer sich diesen Mangel, der ja auch seinen Grund in der menschlichen Schwachheit hat, ehrlich eingesteht und ihn vor Gott demütig bekennt und es sich allerdings nicht nur mit der Anerkennung dieser Tatsache genügen läßt, sondern in fortgesetztem Streben gegen sie angeht und insbesondere sich der Bruderliebe befleißigt, der darf und soll sich doch das gesagt sein lassen, was der Apostel 3, 20 geschrieben hat: „Wenn unser Herz uns verurteilt, dann ist Gott größer als unser Herz und weiß alles.“
Dann wird zwar trotzdem ein gehöriger Rest von Furcht verbleiben. Und dieser Rest ist ja ganz heilsam als Stütze der Liebe, wenn diese da und dort ins Wanken geraten möchte. Aber er wird in weitem und weitestem Maß ausgeglichen werden durch das Vertrauen auf den Gott, dessen Wesen Liebe ist und der in seiner Liebe seinen Sohn gesandt hat als Erlöser der Welt. Dieses Vertrauen auf Gott ist ja selbst nichts anderes als eine andere Form der Liebe zu Gott. „Heiligstes Herz Jesu, ich vertraue auf dich.“ Das ist der schönste Liebesakt, weil er der demütigste ist. In ihm findet die geängstigte Seele Ruhe. Mehr als in zehnmal wiederholten angelernten Akten der vollkommenen Liebesreue. Denn diesen eigenen Akten bringt der Mensch, wenn es darauf ankommt, mit Recht Misstrauen entgegen. Dem Herzen seines Erlösers aber darf er unbedingtes Vertrauen schenken, auch und erst recht in der Stunde des Todes.
So ist also für den wahren Christen, für den, der Christus richtig verstanden hat, auch wenn er der Furcht noch nicht ganz entraten kann, die ausschlaggebende Stimmung doch die der Liebe. Den andern, die die Furcht beherrscht, hält der Apostel den Satz entgegen: „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ Die Vulgata faßt das griechische Verbum als Konjunktiv auf, was es ja auch sein könnte: „Laßt uns lieben.“ Es ist aber wohl als Indikativ zu nehmen. Um den Satz in seinem Zusammenhang richtig zu verstehen, muss man sich hüten, über den kurzen Hauptsatz „Wir lieben“ hinweg zu lesen in der Meinung, der Hauptgedanke stecke in dem begründenden Nebensatz.
Ebenso ist zu beachten, dass das betonte Wir seinen Gegensatz nicht in Gott hat, zu welcher Auffassung gerade der folgende Weil-Satz verleiten könnte, sondern in dem „Fürchtenden“ des vorher gehenden Satzes. Solchen gegenüber betont der heilige Johannes: „Wir [nämlich wir Christen] lieben.“ Absichtlich fehlt das Objekt zu dem Verbum. Denn dieser kurze Satz ist sozusagen das Kennwort, die Parole des Christentums: „Wir lieben.“ Wir gehören zur Religion der Liebe. In der Tat hätte der heilige Johannes das Wesen des Christentums auf keine kürzere Formel bringen können. Es ist schlechthin die Religion der Liebe. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 512 – S. 514