1. Brief des hl. Johannes Kap. 4 Vers 12-17
Die Nächstenliebe ist Ausfluss der Gottesliebe
Warum der Verfasser diese eben besprochene Folgerung auf die Bruderliebe bezogen hat, sagt er in Vers 12: „Gott hat kein Mensch jemals gesehen. Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns zur Vollendung gelangt.“ Es wäre, wie schon gesagt, leichter, dem heiligen Johannes in seinen Gedankengängen zu folgen, wenn er seine Sätze ein bisschen mehr in synthetische Verbindung brächte. Aber so setzt er auch hier den Satz: „Gott hat kein Mensch gesehen“, ohne jede Verknüpfung absolut für sich hin. Und doch verrät dessen Stellung zwischen dem Vorhergehenden und Folgenden, was er damit sagen will. Weil noch kein Mensch Gott selber gesehen hat, weil das also überhaupt unmöglich ist, deshalb kann auch niemand Gott selber unmittelbar Liebe erweisen. Und eben deshalb ist es ihm auch unmöglich, unmittelbar zu erkennen, ob er Gott wirklich liebt, ob also Gott bzw. Gottes Liebe in ihm wohnt.
Weil aber die Bruderliebe ein Ausfluss der Gottesliebe ist, deshalb stellt sie, die ja sichtbar geübt werden kann, auch ein deutliches Kriterium dar für das Vorhandensein der Gottesliebe. „Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns.“ Und wenn Gott in uns ist, dann ist er also auch mit seiner Liebe in uns. Ja diese seine Liebe, die er zu uns hat, ist durch unsere Bruderliebe erst an ihr Ziel gelangt, da sie ja naturgemäß in unserer eigenen Bruderliebe sich auszuwirken strebt. Auch an dieser Stelle wird also zunächst die Liebe Gottes zu uns gemeint sein, nicht unsere Liebe zu Gott, obwohl auch letztere Auffassung dem Zusammenhang gut entsprechen würde.
Diese Wirkung der Gottesliebe in uns ist aber eine Wirkung des Heiligen Geistes, ja dessen allgemeinste und sichtbarste Wirkung. Deshalb kann der Verfasser auch in Bezug auf sie den Satz von 3,24b mit einem den Sinn nicht verändernden kleinen Wechsel der Ausdrucksweise wiederholen: „Daran erkennen wir, daß wir in ihm bleiben und er in uns, daß er uns von seine Geist gegeben hat.“ Beide Wirkungen des heiligen Geistes, der wahre Glaube (vgl. 4, 1-6) und die Bruderliebe, sind unzweideutige Zeugnisse für unsere Gottes-Gemeinschaft.
Beide Wahrheiten, sowohl dass Jesus der wirkliche Sohn Gottes ist, als auch, dass Gott Liebe ist, sind bezeugt vom heiligen Geist. Und diesen beiden Wahrheiten stehen nicht getrennt neben einander, sondern die eine kann nur durch die andere erfaßt werden. Denn Jesus war nicht nur Sohn Gottes, sondern auch Erlöser, in dem sich die Liebe des Vaters geoffenbart hat. Und wäre er nicht Sohn Gottes gewesen, so hätte er auch nicht Erlöser sein können, und die Liebe des Vaters hätte sich nicht in ihm geoffenbart. Deshalb ist dieses Bekenntnis: „Jesus ist der Sohn Gottes“, so absolut notwendig (Vers 15).
Unter diesen, allerdings nur zwischen den Zeilen zu lesenden Leitgedanken sind die Verse 14-16 geschrieben bzw. in die Darstellung von der Liebe hinein geschoben. Aber noch eine weitere Bemerkung ist dem Verfasser dabei wichtig: Gewiss werden diese beiden Wahrheiten vom heiligen Geist im Bewusstsein eines jeden Christen bezeugt. Aber die fundamentale Wahrheit, in der erst das Wesen Gottes als Liebe offenbar geworden ist, „daß der Vater seinen Sohn als Erlöser gesandt hat“, ist nicht nur eine Wahrheit der inneren religiösen Erfahrung. Sie ist eine historische Wahrheit.
Das Christentum beruht auf dieser geschichtlichen Tatsache. Und diese geschichtliche Tatsache, die allerdings das Zeugnis des Geistes für sich hat, hat auch noch andere menschliche Zeugnisse, wie jede geschichtliche Tatsache sie aufzuweisen hat und wie sie ja auch von jeder Behauptung verlangt werden, die als geschichtliche Tatsache gelten will: „Wir Apostel und sonstigen Augenzeugen haben es mit eigenen Augen gesehen und bezeugen es, daß der Vater den Sohn als Erlöser der Welt gesandt hat.“ Darum muss noch einmal betont werden: „Nur wer bekennt, daß Jesus der Sohn Gottes ist, hat Gemeinschaft mit Gott“ (vgl. 2, 22ff; 4, 2ff). Und nur der ist imstande, an eben dieser Tatsache die Liebe Gottes zu erkennen und infolge dessen daran teilzuhaben. Das ist also nur möglich im Kreise der Christen.
Hier aber ist es auch wirklich geworden: „Und wir“ – das sind jetzt nicht mehr die Apostel und Glaubenszeugen allein, sondern alle Christgläubigen – „haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und geglaubt.“ Genau heißt es auch wieder: „die Gott bei uns hat“, vgl. Vers 9. Die griechischen Perfekta drücken aus, daß der ursprüngliche einmalige Akt des Erkennens und Glaubens zu einem dauernden Zustand der Erkenntnis und des Glaubens geführt hat.
Nach dieser Feststellung sowohl der geschichtlichen Wirklichkeit jener Gottes Wesen als Liebe offenbarenden Gottestat, als auch der Tatsächlichkeit der entsprechenden Glaubenserkenntnis bei den Lesern kann der Verfasser nunmehr das Letzte und Größte sagen, was er von der Liebe Gottes, wie sie „unter uns“ vorhanden ist, zu sagen hat. Vers 16b dient ihm als Überleitung. „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.“ Da Gottes Wesen, wie gesagt, Liebe ist, so ergibt sich von selbst, dass der, „der in der Liebe bleibt“, dessen Wesen also auch Liebe geworden ist, mit Gott sozusagen wesenseins ist.
Wie schon gesagt, meint der Verfasser nicht das, was wir natürliche Menschen Liebe zu nennen pflegen und was unter Umständen sogar der Liebe Gottes feindlich sein kann, sondern die christliche Liebe, deren volles Wesen allerdings erst 5,1ff klar wird. Wer aber diese Liebe besitzt, voll und ganz besitzt, der kann auch jene „freudige Zuversicht auf den Tag des Gerichts“ voll und ganz in sich tragen, von der der Apostel schon einmal gesprochen hat (2, 28). Diese freudige Zuversicht auf Gott, den Richter ist ja das letzte Ziel und die schönste Frucht der Liebe Gottes zu uns. In ihr „ist die Liebe unter uns vollendet“, „weil wie er ist, so auch wir sind in dieser Welt“. „Er“ – wörtlich „jener“, nämlich Christus – ist ganz eins mit dem Vater (vgl. Joh. 17, 21). So ist auch der Liebende ganz eins mit Gott. Und zwar schon in dieser Welt. Da hat er allerdings nichts mehr zu fürchten beim Ende dieser Welt bzw. bei seinem Abscheiden aus derselben. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 510 – S. 512