Der moderne Geist kennt weder Sünde noch Erlösung

Darum weicht der moderne Geist vom wahren Christentum ab

3. … Tatsache ist es, daß auch unsere Zeit nicht wenige Glaubens-Wahrheiten allzu sehr der Vergessenheit überantwortet hat, und zwar sind unter diesen Lehren, die gewiß nicht gleichgültig genannt werden dürfen. Das ganze Gebiet von Dogmen, das man unter dem Titel Natur und Übernatur zusammen faßt, dürfen wir ohne Frage hier nennen, wenn man um ein Beispiel fragt. In den Zeiten vor und nach dem Vatikanischen Konzil war dies eine Lehrfrage, die alle Gemüter, rechts wie links, auf das tiefste erregte. Heute müssen wir uns, wenn wir darüber sprechen, von Katholiken sagen lassen, damit machten wir die katholische Sache verächtlich und verhaßt… Und so könnten wir noch manche Dinge namhaft machen, die ganz entschwunden zu sein scheinen, und darunter Dinge, die noch vor nicht allzu langer Zeit als selbstverständliche Wahrheiten galten. Denn das ist ein Merkmal unserer Zeit, das überaus rasche Vergessen.

Ein vergessenes Dogma

6. Sage niemand, das verletze den modernen Menschen, wenn man ihn als Sünder behandle. Das heißt eben soviel, als wenn man sagte, man müsse ihm die Wahrheit verhehlen, weil diese die unangenehme Eigenschaft habe, leicht zu verletzen. Wer nicht den Mut hat, der Wahrheit so zu dienen, daß er auch bereit ist, den Lohn der Welt dafür zu ernten, der möge seine Kräfte andern Aufgaben zuwenden. Wer aber einmal in die Kämpfe der Gegenwart eintritt, der möge bedenken, daß hier das Heil der Menschen und sein eigenes dazu auf dem Spiele steht, und möge darum der Wahrheit dienen, mit aller Schonung für die Menschen, aber auch mit vollem Bewusstsein davon, daß hier auch das Schicksal des Christentums in den Herzen derer, mit denen wir verhandeln, kurz, die christliche Heilsordnung in unsern Händen liegt.

7. Denn hier handelt es sich um ein Dogma, von dessen Anerkennung die Anerkennung, ja die Möglichkeit des Christentums innerhalb der modernen Gesellschaft abhängt. Das Christentum, so lautet eine der herrschend gewordenen Behauptungen, sei in seiner Grundstimmung nur erklärlich aus der Zeit seines Entstehens… Entstanden aus dem Grundgedanken der damaligen Weltanschauung, aus der Verzweiflung des Menschen an sich selbst, habe es ganz naturgemäß jene zwei Vorstellungen ausgebildet, mit denen es steht und fällt, die Lehre von der Unternatur und die andere von der Übernatur. Nur aus jenem Pessimismus, der bis zur Selbstpreisgebung fortschritt, begreife sich die Idee von der Erbsünde, von dem radikalen Verderbnis der menschlichen Natur und die Hoffnung auf eine andere Welt, in der aller Missklang dieses Lebens seine Ausgleich finden werde.
In dieser doppelten Behauptung hätten wir die letzten Gründe zu suchen, warum das Christentum für heute schlechterdings unmöglich geworden sei. Der Hinweis auf das Jenseits lenke uns ab von unserer wahren Aufgabe, die sich hier vollziehen müsse, und störe uns immer in der Freude am Dasein und in dem Bestreben, all unsere Kraft auf die Verschönerung des Lebens zu verwenden. Der Glaube an die Erbsünde mache das Maß voll, indem er uns den Wahn beibringe, es sei unmöglich, je über dieses Los hinaus zu kommen, da die Unfähigkeit, aus eigener menschlicher Kraft diese Sachlage zu ändern, in unserer Natur liege und uns angeboren sei.

8. Aus diesen Voraussetzungen verstehen wir unschwer die Haltung unserer Zeit gegenüber dem Christentum… Wir sind mündig geworden und wissen, was wir sind sind und was wir können. Seitdem der Mensch sich selbst gefunden hat, für seine weltliche Aufgabe im Humanismus, für seine religiöse in der Religion des Protestantismus, seitdem hat er nicht mehr aufgehört, gegen jene Lehren zu kämpfen, die seiner Natur so unwürdig sind. Endlich hat uns Kant durch das Wort Autonomie das volle Bewusstsein von unserer Würde wieder gegeben. Sie ist die Freiheits-Erklärung, die magna charta des modernen Menschen. Seitdem ist es ganz undenkbar, daß er je wieder unter das Joch der alten Vorurteile zurückkehre.
Dies ist der Grundzug, der das Verhalten unseres Geschlechts gegen das Christentum bestimmt. Sprechen auch nicht alle mit jener Geringschätzung, mit der Nietzsche und seine Nacheiferer (…) ihr Gewissen zu übertäuben suchen, so behandeln es doch selbst die sog. Gemäßigten im Geist einer selbstherrlichen Überlegenheit, die, solange diese Gesinnung andauert, jede Unterwerfung unter die Gebote und Lehren der Religion, weil jede Anerkennung eines göttlichen Ursprungs unmöglich macht.
In der Tat will man sich davon überzeugen, wie weit der moderne Geist vom Geist des Christentums abweicht, dann muss man nicht jene Wüteriche des Antichristentums (siehe den Beitrag: Satanismus und Antichristentum) hören, sondern jene angeblich vornehmen Männer, die den christlichen Lehren, wie man sich ausdrückt, wohlwollend gegenüber treten… Sehen wir aber näher zu, so können wir uns nicht verhehlen, daß es hier wie überall die alte Gesinnung ist, die ewig gleiche, die das moderne Denken beeinflußt, die Gesinnung des Herrenmenschen, des Selbstherrn, der Autonomie, der schroffste Gegensatz gegen jenen Geist, den man verächtlich die Arme-Leute-Gesinnung, die Arme-Sünder-Stimmung nennt.

11. Die einfache Wahrheit läßt sich mit wenigen Worten geben. Das, was wir unter Wesen des Christentums verstehen, ruht vor allem auf den zwei Worten Sünde und Erlösung. Wer an keine Sünde glaubt, der kann nicht an den Erlöser glauben, und wer Christus nicht als Erlöser festhält, der hat weder Christus noch Christentum. Christum als Lehrer, als Ideal, als Meister von Pflichttreue und Menschenliebe, Christum als Volksmann und als führenden Geist anerkennen auch Pelagianer und Sozinianer, Rationalisten und Sozialisten. Christum als Erlöser anerkennen nur die Christen, und wer ihn nicht in dieser Eigenschaft anerkennt, der hat kein Recht, sich Christ zu nennen; denn das Christentum ist die Befreiung aus der Herrschaft der Sünde durch die Erlösung im Jesus Christus. (siehe den Beitrag: Worin besteht die Bosheit der Todsünde) Es gehört noch gar vieles andere zum vollen Begriff des Christentums, alles aber ruht auf dieser Wahrheit, und alles ist hinfällig und zwecklos, wenn dies Fundament geleugnet wird. –
aus: Albert Maria Weiß, Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart, Bd. II, 1911, S. 236 – S. 242