Der 2. Petrusbrief
Widerlegung der Spötter über die Wiederkunft Christi und das Weltende
Der zweite Petrusbrief (Kap. 3, Vers 14-16): Beweis der göttlichen Langmut
Weil das alles so ist, weil wir einen neuen Himmel und eine neue Erde erwarten, wendet sich Petrus in einer letzten dringlichen Mahnung an die geliebten Leser. Keiner darf es bequem darauf ankommen lassen, in welcher Seelenverfassung er am Ende dasteht. Auch wenn er nicht merkt, daß durch seinen heiligen Lebenswandel die Ankunft des Gottestages beschleunigt wird, muss jeder rastlos bemüht sein, alles zu meiden, was ihn beflecken oder ihm den Tadel des künftigen Richters zuziehen könnte, während die Irrlehrer in Unreinheit und Sünde dahinleben. (2, 13). Je mehr sich die Christen innerlich von den Spöttern distanzieren und den Blick auf die ewigen Güter lenken, desto weniger wird das Ausbleiben der Parusie ihnen den Frieden des Herzens rauben. Im Bewusstsein der gnadenvollen Auserwählung zum Heile dürfen sie in dankbarer Freude ohne Angst und Unruhe durchs Leben gehen und werden so auch am ehesten mit andern in Frieden leben können. Während die Irrlehrer Zwietracht säen (2, 1), ist der Friede das Lebenselement des echten Christusjüngers (Matth. 5, 9; Joh. 14, 27; 20, 19 u. 21 u. 26; Röm. 14, 19; 1. Kor. 7, 15; Eph. 2, 14; Kol. 3, 15; Hebr. 12, 14; Jak. 3, 18; 1. Petr. 1, 2; 2. Petr. 1, 2 u. ö.)
Statt die Verzögerung der Parusie zum Anlass des Misstrauens gegen Gott und der Leichtfertigkeit zu nehmen, wie es die Spötter tun, sollen die Christen darin einen Beweis der göttlichen Langmut erblicken, ein Zeugnis des Heilswillens Gottes, wie er ihn durch Christus und in Christus offenbart hat. Das schärft Petrus nochmals den Lesern ein (vgl. 3, 9), um sie dazu anzueifern, durch ernstes Tugendstreben die Zeit gut auszunutzen und so ihr ewiges Heil zu sichern. In dieser Auffassung steht der Verfasser nicht allein, weiß sich vielmehr eins mit dem in der ganzen Kirche hoch angesehenen Apostel Paulus, den er in herzlicher Verbundenheit „unsern lieben Bruder Paulus“ nennt, also den berufenen Mitapostel. Da nicht erst im 1. Klemensbrief (5) und im Ignatiusbrief an die Römer (4, 3) Petrus und Paulus als die beiden Hauptsäulen der Kirche erscheinen, sondern schon in der Apostelgeschichte, so läßt sich aus der Berufung auf Paulus kein Beweis gegen die Abfassung unseres Briefes durch den Apostel Petrus ableiten. Gewiß bedurfte es für Petrus keiner Stützung der eigenen Autorität durch Paulus; weil aber viele kleinasiatische Gemeinden Paulus als ihren Gründer verehrten, lag es nahe, auf ihn hinzuweisen. Uns ist dieser Hinweis ein Zeugnis für den vornehmen Charakter des Apostels Petrus, der nicht auf die eigene Stellung pochte, sondern in gewinnender Schlichtheit den lieben Mitbruder zur Geltung kommen ließ.
Überaus bedeutsam ist die Art und Weise, wie Petrus hier zunächst von einem an die Leser gerichteten und dann von allen Briefen des Mitapostels Paulus spricht. Wenn nicht von einem verloren gegangenen Brief an die Leser die Rede ist, so kommt vor allem der an eine Mehrheit kleinasiatischer Gemeinden gerichtete Epheserbrief in Betracht, worin Paulus ebenfalls zu eifrigem Streben nach christlicher Vollkommenheit ermahnt, und zwar unter Hinweis auf das Gericht des Herrn und das ewige Erbe (Eph. 1, 4ff; 2. 12f; 4, 30; 5, 5f u. 14ff). Aber auch in den übrigen Paulusbriefen sind ähnliche Mahnungen nicht selten (Röm. 2, 4; 9, 22f; 1. Kor. 1, 8; 7, 29ff; Kol. 1, 22f; Phil. 1, 10f; 2, 15f; 1. Thess. 3, 13; 2. Thess. 2, 1ff). Nicht aus bloß menschlicher Überlegung sind diese Lehren geflossen; es offenbart sich darin eine von Gott geschenkte Weisheit. Paulus besaß in außergewöhnlichem Grad das vom heiligen Geist verliehene „Wort der Weisheit“ (1. Kor. 12, 8). Erleuchtet vom Geist Gottes, hatte er tieferen Einblick als andere in die Wahrheiten und Geheimnisse des Glaubens (1. Kor. 7, 40).
Das zeigt sich nicht nur in dem Brief oder in den Briefen des heiligen Paulus, die den Lesern bekannt sind, sondern „in allen Briefen, wenn er darin auf diese Dinge zu sprechen kommt“. Es ist ja darin auch von vielem andern die Rede, und überall offenbart sich die besondere Weisheit des Verfassers; hier aber geht es darum, wie auch Paulus das christliche Leben und Streben ins Licht der letzten Dinge rückt.
Schriften, die aus Gott geschenkter Weisheit geflossen sind, stellen an das menschliche Verständnis höchste Anforderungen. Wer ohne die notwendigen Kenntnisse und ohne sittliche Festigung an ihre Deutung heran tritt, wird ihren wahren Sinn nicht nur missverstehen, sondern den Worten geradezu Gewalt antun und sie verdrehen, wie wenn auf der Folter Aussagen aus jemand erpreßt werden, die keine Wahrheit enthalten.
So missbrauchen die Irrlehrer die Briefe des heiligen Paulus zu ihren Zwecken, indem sie als „Ungebildete und Ungefestigte“ die Lehre des Apostels von der christlichen Freiheit bewußt „verdrehen“, um so ihre Sittenlosigkeit und Zügellosigkeit zu rechtfertigen. In gleicher Weise missbrauchen sie „auch die übrigen Schriften“. Damit sind nach eindeutigem biblischem Sprachgebrauch die als Gottes Wort anerkannten heiligen Schriften zu verstehen, die unter der besonderen Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben worden sind und darum als Quelle des Glaubens und als höchste Norm des sittlichen Lebens gelten müssen.
Die Glaubensboten waren ja bei der schriftlichen Niederlegung und Mitteilung der göttlichen Offenbarung ebenso wie bei der mündlichen Verkündigung des Wortes Gottes amtliche Zeugen der Wahrheit. Wer ihre Schriften verdreht, sündigt gegen den wahrhaftigen und allheiligen Gott und zieht sich dadurch das ewige Verderben zu. Für die Lehre vom inspirierten Charakter der Heiligen Schrift, namentlich aber für die Kanonbildung des Neuen Testamentes sind die beiden Verse 15 und 16 sehr aufschlußreich. Da Petrus von „allen Briefen“ des Apostels Paulus spricht, so brauchen wir zwar nicht an die abgeschlossene Sammlung der erhalten gebliebenen Paulusbriefe, an das vollendete „Corpus Paulinum“ zu denken, aber eine Mehrzahl dieser Briefe ist sicher als bekannt anzunehmen. Dass die Gemeinden schon zu Lebzeiten des Apostels seine Briefe sammelten und als wertvollste Urkunden des Glaubens aufbewahrten, lag sehr nahe und wird durch die Sammlung der Schriften weit weniger angesehener Männer zu deren Lebzeiten noch wahrscheinlicher. Die außerordentliche Wertschätzung der Paulusbriefe findet durch den Missbrauch seitens der Irrlehrer ihre Bestätigung.
Petrus aber stellt die Briefe seines Mitapostels auf die gleiche Linie wie die allgemein anerkannten heiligen Bücher des Alten Testamentes. Weil sich die Christen als Rechtsnachfolger Israels betrachteten, war das Alte Testament auch ihre Bibel. Daneben aber traten die Schriften der christlichen Offenbarung als Zeugen der Wahrheit (vgl. Luk. 1, 1-4; Gal. 1, 12; Hebr. 1, 1f; 2. Petr. 1, 21; Offb. 1, 11 u. 19; 22, 6f). –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI/1, 1950, S. 325 – S. 327