P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
IV. Von der Übertretung der Gebote oder von der Sünde
§ 1. Von der sünde überhaupt
Was soll uns von der Sünde abschrecken?
Die Betrachtung ihrer Bosheit und ihrer schlimmen Folgen.
Nichts ist wohl geeigneter, dem Menschen Abscheu vor der Sünde einzuflößen, als die klare Erkenntnis, wie böse sie an sich und wie verderblich sie in ihren Folgen ist. Um diese heilsame Erkenntnis zu erlangen, sollen wir sowohl die innere Bosheit der Sünde wie auch dir furchtbaren Strafen, die ihr auf dem Fuße nachfolgen, fleißig erwägen und betrachten. Wir würden nimmermehr aus dem lustbekränzten Becher der Sünde trinken, wenn wir wüßten, wie bitter und giftig ein solcher Trunk ist.
Worin besteht die Bosheit der Todsünde?
1. Die Todsünde ist eine schwere Beleidigung Gottes, unseres höchsten Herrn.
Die Bosheit einer Beleidigung ist um so größer, je höher der Beleidigte und je niedriger der Beleidiger steht; ferner, je kränkender die Art der Beleidigung ist, und je verwerflicher die Beweggründe sind, welche dazu antreiben. Alle diese Umstände nun, welche die Bosheit einer Beleidigung vergrößern, treffen bei der Todsünde in einem unbeschreiblich hohen Grade zusammen und machen dieselbe zu einem bodenlosen Abgrund von Bosheit. Denn wer ist zunächst der Beleidigte? Es ist Gott, der Ewige und Unendliche, Gott, der Schöpfer, Erhalten und Lenker aller Dinge (Röm. 11,36); der König der Könige, dessen Thron der Himmel, dessen Fußschemel die Erde (IS. 66,1) ist, vor dem selbst die himmlischen Geister in heiliger Ehrfurcht erzittern; Gott, der allweise und allheilige Gesetzgeber, auf dessen Wink Sonnen leuchten und erlöschen, Gestirne erscheinen und verschwinden, Gott, dem Millionen von vernunftlosen Geschöpfen mit unverbrüchlicher Pünktlichkeit gehorchen. – Und was ist der Mensch, der Beleidiger? Ein schwaches, armseliges Geschöpf, „das dahinwelkt wie eine Blume des Feldes“ (Ps. 102,15), dessen Leben ist wie „ein Dunst, der eine kleine Weile sichtbar ist und dann verschwindet“ (Jak. 4,15). Was ist der Mensch? „Erdenstaub“ (Sir. 17,31), ein elender Wurm (Job 25,6) und eine Speise der Würmer. – Und worin besteht die Beleidigung, die du, armseliger Erdenwurm, dem Allerhöchsten durch die schwere Sünde zufügst? Du mißachtest das Gebot, das er in übergroßer Liebe dir ins Herz geschrieben, das er durch seinen eingeborenen Sohn dir geoffenbart und durch seine Stellvertreter dir verkündet hat, das heilige und gerechte Gebot, das er dir gegeben, damit du ewig glücklich werdest. Du verschmähst die unschätzbare Belohnung, die er dir für die treue Beobachtung desselben verheißt, verschmähst ihn selber, der dein übergroßer Lohn sein will; du spottest gleichsam seiner Drohungen, spottest der ewigen Höllenqual, der gerechten Strafe deines Ungehorsams. Du empörst dich in wahnsinnigem Übermut gegen ihn, deinen höchsten Herrn, wirfst sein sein Joch ab und sprichst, wenn auch nicht mit Worten, so doch durch die Tat: „Ich will dir nicht dienen.“ (Jerem. 2,20) O der Bosheit, der unbeschreiblichen Bosheit! Was treibt dich an, o Mensch, so gegen deinen Herrn und Gott zu handeln? Ist es der Besitz aller Schätze der Erde? Ist es der Genuß aller Freuden? Ist es die Weltherrschaft, die du durch die Sünde zu erlangen hoffst? Wäre auch dieses der Preis deiner Auflehnung, selbst dann wäre deine Bosheit grenzenlos. Denn was sind alle irdischen Güter gegen Gott, das unendliche Gut? Weniger als ein Tropfen gegen den unermeßlichen Ozean, weniger als ein Stäubchen gegen das ganze Weltall. Es wäre also selbst in diesem Falle eine unsägliche Mißachtung Gottes, wenn du ihn jenen Erdengütern nachsetzest. Allein dem ist nicht also. Nein, nein, die bloße Lust eines Augenblickes, ein schnöder Gewinn, eine eitle Ehre, eine trügerische Vorspiegelung des Satans genügt dir, um auf den Besitz Gottes zu verzichten und ihm den Gehorsam aufzukündigen, ihn angesichts aller Engel und Heiligen so gänzlich zu mißachten! Welcher Triumph muss es nicht für den Fürsten der Finsternis sein, wenn er dich verleiten kann, deinem Herrn und Gott so zu trotzen! O Mensch, bedenke dies wohl und urteile selbst, ob eine größere Bosheit denkbar sei als die deine, wenn du dich erfrechst, eine Todsünde zu begehen. (1)
(1) Den Ursachen, welche die Todsünde zu einer so schweren Beleidigung Gottes gestalten, verdient noch besonders die beigezählt zu werden, dass man durch dieselbe Gott als letztes Ziel aufgibt und, statt in ihm, in einem Geschöpf seine Glückseligkeit sucht. So setzt der Sünder in gewisser Weise das Geschöpf an die Stelle Gottes, er stürzt, soviel an ihm liegt, Gott von seinem ewigen Throne, um ein elendes Geschöpf auf den denselben zu erheben. (…) In diesem Sinne ist die Todsünde eine Art Abgötterei (…) Diesen Sinn hat auch der bekannte Ausspruch des hl. Bernhard: „Der Sünder vernichtet durch seinen verkehrten Willen, soviel an ihm liegt, Gott selbst.“ Ipsum Deum perimit (Sermo 3 in Pasch.) – Zur Beleuchtung dieses Gegenstandes mag es nicht unnütz sein, die läßliche Sünde der Todsünde gegenüber zu stellen. Auch durch die läßliche Sünde wendet sich der Mensch einigermaßen von Gott ab und zum Geschöpf hin, indem er in einer minder wichtigen Sache dem Willen Gottes zuwider handelt und in dem Geschöpf eine unerlaubte Befriedigung sucht. Allein etwas anderes ist es, irgend eine Gott mißfällige Befriedigung im Geschöpf zu suchen, ohne Verzicht zu leisten auf die höchste Befriedigung, auf die ewige Seligkeit, die im Besitz Gottes besteht, und etwas anderes, sich eine Befriedigung zu gestatten, die eine tatsächliche Verzichtleistung auf die ewige Glückseligkeit ist. Ersteres geschieht bei der läßlichen, letzteres bei der Todsünde darum ist diese auch eine Abwendung von Gott als dem letzten Ziel, jene hingegen nicht. (S. Thom. 1. 2. q. 72. a. 5; De Malo q. 7. q. 1. etc.) Wohl geht nicht durch jede schwere Sünde die Hoffnung verloren, und selbst für denjenigen, der gegen den Glauben und Hoffnung schwer gesündigt hat, ist noch eine Bekehrung möglich; aber welch ein Unterschied ist zwischen dem wirklichen Anrecht auf den Himmel, das durch die Todsünde verloren geht, und der bloßen Hoffnung auf Wiedergewinnung dieses Anrechts! Wie manchen ereilt vor der Bekehrung der Tod und mit ihm die ewige Verdammnis!
2. Die Todsünde ist ferner ein schändlicher Undank gegen Gott, unsern gütigsten Vater.
Wäre Gott ein harter, grausamer Herr, der mit unerbittlicher Strenge seine Untertanen, wie einst Pharao die Israeliten, Tag für Tag zu den beschwerlichsten Fronarbeiten antriebe, so ließe sich die Auflehnung gegen ihn einigermaßen erklären. Allein er ist für uns der beste und gütigste Vater. Was kann der Sünder da noch vorbringen zur Beschönigung seines Vorgehens? Und wirklich, o Mensch, wer du immer sein magst, „ist nicht Gott dein Vater?“ (5. Mos. 32,6) Verdankest du ihm nicht Dasein und Leben, alles, was du bist und hast? Hat er dich nicht mit zahllosen Beweisen seiner Güte und Liebe überhäuft? Oder von wem hast du deinen Leib, deine gesunden Sinne und Glieder? Von wem deine Seele mit jenen ausgezeichneten Fähigkeiten, die dich zum Ebenbild des Allerhöchsten, gewissermaßen zum König und Herrn der sichtbaren Welt machen? Wer hat dich bis auf den heutigen Tag im Dasein erhalten und dir so manche Freude bereitet? Dein himmlischer Vater und er allein. Doch das sind nur natürliche Wohltaten, die gar nicht in Vergleich kommen können mit jenen übernatürlichen Gaben, die dich zum Kind Gottes in einem ganz neuen Sinne machen und dich befähigen, einst an seiner eigenen, göttlichen Glückseligkeit teil zu nehmen. –
Dieselben hatte er bereits in der Person unsers Stammvaters dem ganzen Menschengeschlecht gegeben; und nachdem dieser sie durch seinen Ungehorsam für sich und seine Nachkommen verloren hatte, sandte Gott seinen eingeborenen, ewigen Sohn in die Welt, sandte ihn ungeachtet der zahllosen persönlichen Sünden, womit die Menschen ihn beleidigten; sandte ihn, damit er durch sein Leiden und seinen Tod am Kreuze alle unsere Sünden tilge und uns die verlorenen Güter wieder erwerbe. Ist das nicht unerhörte Vaterliebe? Im Hinblick auf die unendlichen Verdienste dieses seines viel geliebten Sohnes überhäuft er dich, mein Christ, dich, sein vordem mit Recht verstoßenes, nun aber neuerdings huldvoll angenommenes Kind mit zahllosen Gnaden der Erleuchtung, Heiligung und Kräftigung. Im Hinblick auf Jesus, deinen Heiland, stellt er dir das reiche Erbe des Himmelreiches in Aussicht, bahnt dir den Weg zum himmlischen Jerusalem, öffnet dir dessen ewige Pforten und bereitet dir inmitten desselben eine Stätte ewiger Wonne in seiner beseligenden Anschauung. O Christ, beherzige das wohl! Ist dir Gott nicht in der Tat ein unendlich gütiger und liebevoller Vater? – Und was tust du, wenn du eine Todsünde begehst? Du lehnst dich gegen diesen deinen besten und liebreichsten Vater auf; ja du mißbrauchst gerade die Gaben, die du von ihm empfangen hast, um ihn damit zu beleidigen.
Absalom war der Liebling seines Vaters David. Er empfing, selbst nachdem er ein erstes Mal schwer gegen seinen Vater gesündigt hatte, Wohltaten über Wohltaten aus dessen Händen. Durch die Versöhnlichkeit und Güte eines solchen Vaters nicht gebessert, sondern nur kühner gemacht, benutzte der ungeratene Sohn die väterlichen Gunstbezeugungen nur dazu, das Volk aufzuwiegeln, eine Verschwörung gegen seinen Vater anzuzetteln und nach dessen Krone und Leben zu streben. War das nicht ein abscheulicher Undank? Doch unvergleichlich verabscheuungswürdiger ist der Undank, dessen du dich schuldig machst, wenn du es wagst, Gott, deinen Vater im Himmel, durch eine schwere Sünde zu beleidigen. Auch du bedienst dich der vom Allerhöchsten empfangenen Wohltaten, deines Gedächtnisses, deines Verstandes, deines Willens, aller Sinne und Kräfte deines Leibes, der Schönheit und Vortrefflichkeit der leblosen und belebten Geschöpfe, um dessen Vaterherz zu kränken und ihm somit Schmach anzutun, womit du ihn verherrlichen solltest; auch du gehst so weit, böse zu sein und in deiner Bosheit zu verharren, weil dein himmlischer Vater gut und langmütig ist; weil er verzeiht und abermals verzeiht, da er doch Ursache genug hätte, dich nach der ersten Auflehnung auf ewig von seinem Angesicht zu verstoßen. Wohl mit Recht klagt also Gott durch den Mund des Propheten (Isaias 1,,2): „Höret, ihr Himmel und Erde, merke auf, denn der Herr redet: Söhne habe ich erzogen und erhöht, sie aber haben mich verachtet.“
3. Die Todsünde ist eine fluchwürdige Treulosigkeit gegen Jesus, unsern liebevollsten Erlöser.
Groß, unermeßlich groß ist die Bosheit einer Todsünde, von wem immer sie begangen wird. Was aber der Todsünde des Christen noch einen besonders hohen Grad der Bosheit gibt, ist der Umstand, daß sie einen schändlichen Treubruch gegen Jesus, unsern Heiland und König, in sich schließt. In der hl. Taufe hat der Christ im Angesicht des ganzen himmlischen Hofes dem Fürsten der Finsternis feierlich widersagt, hat Christus, seinem Heiland, ewige Treue geschworen und feierlich gelobt, unter seiner Fahne zu streiten bis in den Tod. Darum wurde er nach der dreimaligen Widersagung vom Priester an Schulter und Brust mit hl. Öl gesalbt, damit er stark sei und unüberwindlich im Kampf. Was tut nun der Christ, wenn er eine Todsünde begeht? Er bricht jenes feierliche Gelöbnis, wendet sich von seinem göttlichen Führer ab, kehrt gleichsam die Waffe gegen ihn und reiht sich in die Scharen des Satans ein. Bleibt er auch äußerlich noch im Heerlager Christi, wird er auch nicht ein Abtrünniger durch Verleugnung des Glaubens, so hält er es doch nicht mit Christus, sondern mit dem Widersacher Christi; denn auch von den Sündern, die im Schoße der Kirche sind, gilt das Wort des Herrn bei Matthäus (12,30): „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich.“ Nimmermehr würde ein irdischer König und Feldherr einen Soldaten als den seinigen anerkennen, von dem er wüßte, daß er zwar noch in seinem Lager sich aufhielte, aber im geheimen Einverständnis mit dem feindlichen Anführer wäre; er würde denselben bielmehr alsbald aus seinem Heere ausscheiden und standrechtlich erschießen lassen. Auch der sündige Christ hofft umsonst, von Jesus als einer der Seinigen anerkannt zu werden; er muss im Gegenteil jeden Augenblick darauf gefaßt sein, mit andern Verworfenen aus dessen Munde die schrecklichen Worte zu vernehmen: „Weichet von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, welches dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist.“ (Matth. 25,41)
Wenn schon der Treubruch, dessen man sich gegen einen irdischen König schuldig macht, als ein schweres Verbrechen betrachtet wird, wer vermöchte wohl den Treubruch gegen Jesus, den ewigen, unsterblichen König Himmels und der Erde, nach Verdienst zu brandmarken? Wer vermöchte die Bosheit desjenigen zu beschreiben, der es wagt, zum Verräter zu werden an Jesus, seinem Erlöser, der ihn mit dem kostbaren Preis seines Blutes erkauft hat, dem allein er es verdankt, daß er noch nicht eine Beute der Hölle ist! – Diese Treulosigkeit ist um so verdammlicher, je größer und vielfacher die Wohltaten sind, die der Christ von seinem Heiland empfangen hat und in dessen Kirche täglich empfängt, je herrlicher der Lohn ist, den er als treuer Mitkämpfer zu erwarten hat, je verächtlicher der Feind, zu dem er überläuft, und je schnöder der Sold, den er von diesem erhält. Denn was könnte für Jesus schimpflicher sein als das Verfahren eines solchen Christen? Ist dies nicht eine offene Erklärung, daß die Sache Satans den Vorzug verdiene vor der Sache Christi, daß der Gewinn, den der Höllenfeind seinen Sklaven verspricht, mehr wert sei als die Verheißungen, die Jesus seinen Freunden und Mitstreitern macht? Wahrlich, diese Hintansetzung ist nicht geringer, ja sie ist in mehrfacher Beziehung viel entehrender für Christus, als selbst jene von Seiten der Juden es war, da sie den Mörder Barrabas ihm vorzogen. Die Juden erkannten ihn nicht als ihren Gott und Messias; denn „wenn sie ihn erkannt hätten, so würden sie“, wie der hl. Paulus sagt, „den Herrn der Glorie nicht gekreuzigt haben“. (1. Kor. 2,8) Der Christ hingegen kennt ihn und glaubt an ihn, und dennoch tut er ihm solche Schmach an. Ist das nicht eine ganz namenlose Bosheit? Meine Christen! Erwägen wir dieses alles wohl und rufen wir mit demselben Apostel: „Wenn jemand unsern Herrn Jesum Christum nicht liebt (sondern ihn beleidigt), der ist des Fluches würdig.“ (1. Kor. 16,22)
Das bisher Gesagte gibt uns allerdings einen hohen Begriff von der Bosheit der Sünde; allein die ganze Größe dieser Bosheit zu fassen, vermögen wir nicht. Kein Mensch, selbst kein Engel ist dazu imstande; nur einer vermag es, und dieser eine ist Gott. Ja, Gott, der allein die unendliche Fülle seiner Vollkommenheit vollkommen begreift, der allein den unendlichen Abstand zwischen seiner höchsten Majestät und der Niedrigkeit des Geschöpfes ermißt, der allein das Maß, die Zahl und den unschätzbaren Wert der Wohltaten kennt, die der Mensch und insbesondere der Christ von seiner Hand empfangen und frevelhafter Weise mißbraucht hat: er allein begreift auch vollständig die Größe und Schwere der Beleidigung, welche ihm durch die Sünde zugefügt wird. Wollen wir nun wissen, was Gott von der Sünde denkt, so brauchen wir nur die Strafen zu betrachten, welche er über dieselbe verhängt hat; denn seine unendliche Weisheit, Gerechtigkeit und Güte leisten uns Bürgschaft dafür, daß er die Sünde nicht strenger straft, als sie es verdient.
Quelle: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 2, 1912, S. 333-337