Der Antichrist und die Zeit der Apostasie

Der religiöse Kultus vergötterter Menschen wird wieder hergestellt

Es ist eine der wunderbarsten Auslegungen der Väter, daß am Ende der Welt das Heidentum werde wieder hergestellt werde. Dies wenigstens hätten wir für unmöglich halten sollen, wenn auch aus keinem andern Grunde, so doch wenigstens wegen der vollen Blüte des modernen Unglaubens, und doch war der Unglaube niemals herrschender als zur Zeit, da in der ersten französischen Revolution die Offenbarung für erlogen erklärt und der Kult der Vernunft und der Ceres an ihre Stelle gesetzt wurde. In der Tat, wenn die höher Gebildeten Pantheisten werden, so werden die Einfältigen bald Polytheisten sein. Sie bedürfen einer sinnlichen Vorstellung als die feingebildeten Ungläubigen und geben dem Objekt ihrer Anbetung zuerst in Gedanken und dann in der Form eine Persönlichkeit und einen Leib. Und was ist dies anders als einfaches und nacktes Heidentum? Allein darauf kann ich nicht näher eingehen. In dem zweiten Heft von Gaumés Werk über die Französische Revolution, namentlich in dem 12, 13, 14. Kapitel wird man einen ausführlichen Bericht über das Heidentum vor fünfzig Jahren finden, und in dem Katechismus der positiven Religion wird man unter dem Hauptstück „über öffentlichen und Privatgottesdienst“ ein vollständiges Bekenntnis eines religiösen Kultus an die Menschheit gerichtet sehen, – an den Gesamtkörper vergötterter Menschen, was die natürliche Unterlage der Religion des alten Griechenlands und Roms ist.

Ich sage aber nicht, daß es nicht weit erstaunlichere und widernatürlichere Phänomene über die Manifestation und Person des Antichristen geben könnte. Die ganze Geschichte würde uns darauf führen, dies zu erwarten, alle Prophezeiungen scheinen es voraus zu sagen: „die großen Perioden der göttlichen Wirksamkeit in der Welt deuten es zum Voraus an. Mein Zweck war nicht, die Zukunft des Übernatürlichen zu entkleiden, sondern zu zeigen, wie das Übernatürliche sich in den gewöhnlichen Lauf der Welt einmischt und uns, so zu sagen, beschleicht, ohne daß wir es gewahr werden.“ „Das Reich Gottes kommt ohne Aufsehen.“; es ist mitten unter uns in voller Gegenwart und Macht unter äußern Verhältnissen, die uns gewöhnlich scheinen, und im Laufe menschlicher Handlungen, unter den nationalen Bewegungen, in der Politik der Regierungen und in der Diplomatik der Welt nicht bemerkt werden. Wie Christus bei seiner Ankunft für den Zimmermannssohn gehalten wurde, so kann der Antichrist sichtbar nichts weiter sein, als ein glücklicher Abenteurer. Selbst sein widernatürlicher Charakter kann entweder als Äußerung des Wahnsinns angesehen werden, oder als Täuschung seiner Anhänger und Schmeichler gelten. So verblendet die Welt ihre eigenen Augen durch den Nebel ihres geistigen Hochmuts…

Ich hoffe später zu zeigen, daß der Antagonismus zwischen zwei Personen auch ein Antagonismus zwischen zwei Gesellschaften ist, und daß gleichwie unser göttlicher Herr das Haupt und der Repräsentant aller Wahrheit und Gerechtigkeit in der Welt von Anbeginn ist, ebenso der Antichrist das Haupt und der Repräsentant aller Lüge und alles Unrechtes sein wird, das sich seit achtzehnhundert Jahren in den Häresien, in den sozialen Unordnungen und politischen Revolutionen der antikatholischen Bewegung der Welt aufgehäuft hat.

So ist die große Tiefe beschaffen, auf welcher die christliche Gesellschaft der Welt jetzt ruht. Von Zeit zu Zeit hat sie sich mit einer widernatürlichen Macht empor gehoben, und die christliche Ordnung Europas zittern und wanken gemacht. Dann schien sie sich wieder zur Ruhe nieder zu senken. Aber Niemandem mit scharfem Geistesblick kann es entgehen, daß sie jetzt tiefer, mächtiger und weiter verbreitet ist als jemals. Daß diese antichristliche Macht eines Tages ihr Haupt finden und für einige Zeit in dieser Welt die Oberhand haben werde, ist aus der Prophezeiung gewiß. Allein dies kann nicht sein, bis „er, der aushält“, hinweg genommen sein wird. Dies jedoch ist unser nächster Gegenstand, und ich darf demselben hier nicht vorgreifen. –
aus: Heinrich Eduard Manning, Kardinal, Der Antichrist oder die gegenwärtige Krise des heiligen Stuhls, im Lichte der Weissagung betrachtet, 1861, S. 42 – S. 45

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