Der 2. Petrusbrief

Der zweite Petrusbrief (Kap. 1, Vers 8-11): Der Nutzen der geforderten Tugenden

Wie der Herr in der Bergpredigt acht Tugenden aufzählt und jeden, der sie übt, selig pries (Matth. 5, 3ff), so weist nun Petrus auf den Nutzen hin, der aus der treuen Befolgung des achtgliedrigen Programms für das Christenleben hervor geht. Dabei läßt er nicht unerwähnt, dass es nicht genügt, die genannten Tugenden einmal erworben zu haben. Sie gehen verloren, wenn sie nicht wachsen; denn im Wachstum zeigt sich erst ihre Lebenskraft, während ein geruhsames Haben bald zum Verlust führt. „Rast ich, so rost ich!“ Wer aber in den Tugenden wächst und fortschreitet, erweist sich als reich gesegnet. Wie die Treue des Knechtes ans einem Fleiß und die Güte des Baumes an der Frucht festgestellt werden, so zeigt es sich im Christenleben, dass die Betätigung der verschiedenen Tugenden der sicherste Weg zu einer immer tieferen Erkenntnis Jesu Christi ist. Der Herr selber sprach vom „Tun der Wahrheit“ (Joh. 3, 21) und zeigte seinen Gegnern, wie sie zum rechten Verständnis seiner Lehre gelangen könnten: „Wenn jemand seinen (Gottes) Willen zu tun entschlossen ist, wird er erkennen, ob diese Lehre von Gott stammt, oder ob ich aus mir selbst rede“ (Joh. 7, 17). In dieser Seelenhaltung ist der Mensch aufgeschlossen für die Wahrheit und für das Licht von oben.

Die Erkenntnis, von der Petrus spricht, ist also bloß verstandesmäßiges Erfassen, kein abstraktes Wissen; sie steht vielmehr in engstem Zusammenhang mit der Haltung des Willens. Schon Isaias hatte die Erkenntnis des Herrn und das aus ihr entspringende reine Leben als Kennzeichen der messianischen Zeit verkündet. (Is. 11, 9)

Wollte der Mensch umgekehrt erst mit der Tugendübung beginnen, wenn sich ihm das letzte Fragezeichen im Erkennen gelöst hat, so erginge es ihm wie dem Blinden, der unfähig ist, das Licht wahrzunehmen. Er würde dem Kurzsichtigen gleichen, der sich nur mühsam vorwärts tastet, außerstande, die Dinge in ihrem rechten Verhältnis zueinander zu beurteilen. Er sieht nur das Nächstliegende, das Erdhafte, es fehlt ihm der Blick für das Ewige. Das Licht, das ihm in der Taufe aufgeleuchtet ist, hat er unter den Scheffel gestellt. Dass ihn damals Gott von seinen Sünden reinigte, bedeutete ihm nichts mehr. Das Versprechen, fortan dem Bösen zu entsagen und dem Satan zu widersagen, bindet ihn nicht mehr, da er es in Vergessenheit geraten ließ.

An den Irrlehrern mögen die Leser beobachten, wie berechtigt der Aufruf zu eifrigem Tugendstreben und wie verhängnisvoll der Stillstand auf dem Weg der Erkenntnis Christi ist. Diese Wahrnehmung soll ihnen Ansporn zur Ausdauer sein. Gewiß hat Gott sie aus Gnade zum ewigen Heil berufen und sie aus der sündigen Welt ausgewählt; aber damit ist das Ziel noch nicht erreicht. Ihre Aufgabe ist es, die Berufung und Auserwählung „festzumachen““ und so sich zu sichern gegen die Gefahr, trotz allem doch amEnde verloren zu gehen. Wichtige Zeugen fügen im Text ausdrücklich hinzu, wodurch dieses Festmachen geschieht: „durch die guten Werke“. Auch wenn dieser Zusatz nicht zum ursprünglichen Text gehören sollte, so entspricht er doch durchaus dem Sinn der Mahnung. Wie wichtig sie dem Apostel erscheint, ergibt sich aus der direkten Anrede der Leser als Brüder, ein Titel, der nur hier in den beiden Petrusbriefen vorkommt, während er in den Briefen der Apostel Paulus, Johannes und Jakobus beliebt ist. Befolgen die christlichen Brüder die Mahnung, stellen sie durch Tugendstreben und gute Werke ihre Berufung sicher, so verleiht ihnen Gott seinerseits die Gnade der Beharrlichkeit. Sie werden auf dem Weg zum ewigen Heil nimmermehr zu Fall kommen, werden des Heils nicht verlustig gehen. Also nicht völlige Sündenlosigkeit wird verheißen, sondern Bewahrung vor dem Fall, der zur Verwerfung führt.

Gott wird sich von ihnen an Großmut nicht übertreffen lassen. Weil und wie sie dich hienieden bemüht haben, die verschiedenen Tugenden“darzubieten“ (1, 5) und darin zu wachsen (1, 7), wird ihnen am Ende ihres Lebensweges als Gegengabe durch Gott der Zutritt zu dem ewigen Reich Christi im Himmel „dargeboten werden“, und zwar wird das „in reichem Maße geschehen“. Weit werden sich ihnen die Tore der ewigen Stadt auftun, und als Himmelsbürger werden sie Seligkeit und Herrlichkeit in reicher Fülle genießen (Ps. 36 [35], 9f; Offb. 21, 24ff).

Was Petrus hier schreibt, ist vom Konzil von Trient als biblisches Zeugnis für die Möglichkeit und Notwendigkeit der Beobachtung der göttlichen Gebote heran gezogen (sess. VI, cap. 11). Eine andere, für das religiöse Leben höchst wichtige Folgerung ergibt sich daraus, dass Petrus die Christen auffordert, durch Tugendübung ihre Berufung und Auserwählung festzumachen. Das Tridentinum erklärt nämlich weiter: „Niemand kann ohne eine besondere Offenbarung wissen, wen Gott für sich auserwählt hat“ (Sess. VI, cap. 12). Es schließt sogar jeden aus der Kirche aus, der behauptet, ohne es aus einer besonderen Offenbarung zu wissen, er werde sicher, mit absoluter und unfehlbarer Gewissheit jenes großes Geschenk der Beharrlichkeit bis zum Ende haben (sess. VI, cap. 16). Das soll nicht Anlass zur Verzagtheit werden, vielmehr vor gefährlicher Selbstsicherheit warnen und zum Einsatz aller Kräfte anspornen. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI/1, 1950, S. 295 – S. 296