Der 2. Petrusbrief
Der zweite Petrusbrief (Kap. 1, Vers 20-21): Schriftauslegung durch Irrlehrer
Je treuer die Leser die Mahnung des Apostels befolgen und sich an das Wort der Heiligen Schrift halten, desto öfter werden sie vor der Frage stehen, welches denn der wahre Sinn der darin enthaltenen Weissagungen sei. An den Irrlehrern haben sie das abschreckendste Beispiel dafür, wie man Gottes Wort missdeuten und zum eigenen Verderben verdrehen kann (3, 16). Von vorne herein müssen sie sich also klar sein darüber, dass jegliche Willkür und Eigenmächtigkeit bei der Schriftauslegung zu vermeiden ist. Petrus will nicht sagen, die Propheten selbst und alle Verfasser der heiligen Bücher hätten nicht eigenmächtig, was ihnen beliebte, aufgeschrieben oder die Zukunft gedeutet, so gut sie es vermochten; er warnt vielmehr die Leser des Briefes vor dem, was die Irrlehrer eigenmächtig mit dem „prophetischen Wort“ tun, indem sie es nach Belieben deuten. Von den Verfassern der biblischen Bücher spricht er im folgenden Vers.
Die gesamte Geschichte der Schriftauslegung gibt Zeugnis von der Wichtigkeit dieser apostolischen Mahnung, angefangen von den Sadduzäern, denen Jesus bezeugte: „Ihr seid im Irrtum, weil ihr weder die Schriften noch die Macht Gottes versteht“ (Matth. 22, 29), bis zu den adventistischen Schwarmgeistern in verschiedenen Zeiten und zu den „Ernsten Bibelforschern“ oder auch den „pneumatischen“ Schrifterklärern unserer Tage. Eigenmächtige Auslegung der Bibel hat viele zu Häretikern gemacht.
Hieronymus, wohl der zuständigste Fachmann auf diesem Gebiet, schreibt in seinem Brief an Paulinus, ohne Führer und Wegweiser könne er beim Studium der Heiligen Schrift den richtigen Pfad nicht finden. Und nachdem er dann auf die Selbstverständlichkeit hingewiesen hat, dass zum Erlernen irgendeines Handwerks jeder einen Lehrmeister brauche, dass die Ärzte die Heilkunde ausüben und die Zimmerleute die Balken behauen, fährt Hieronymus mit der ihm eigenen Ironie fort:
„Einzig und allein zur Erklärung der Schrift hält sich jeder berufen. Wir alle verfassen zuweilen Gedichte, ob wir es können oder nicht. Die redselige Alte, der kindisch gewordene Greis, der ums Wort nie verlegene Schwätzer, sie alle nehmen sich die Schrift vor, zerren an ihr herum und machen sie zum Gegenstand ihrer Unterweisung, ehe sie selbst etwas gelernt haben. Andere philosophieren mit pedantischem Augenaufschlag und lehrhaften Worten vor alten Weibern über die Heilige Schrift. Wieder andere, es ist geradezu eine Schande, lernen von Frauen, was sie die Männer lehren sollen. Noch nicht genug, mit einer fabelhaften Leichtigkeit des Ausdrucks, mit einer unbeschreiblichen Kühnheit unterweisen sie andere über Dinge, die sie selber nicht verstehen… Frivolen Gauklerspiels macht sich schuldig, wer lehrt, was er nicht versteht, oder wer, um mit Kleitomachus zu reden, nicht einmal weiß, dass er nichts weiß“ (Brief 53, 7).
Wegen der erfreulich gesteigerten Wertschätzung der Heiligen Schrift in der Gegenwart ist es doppelt notwendig, die Mahnung des Apostels ernst zu nehmen. Nur dann trägt die Beschäftigung mit dem Wort Gottes jene kostbaren Früchte für das christliche Leben, wie sie die Bibel selbst verheißt (Ps. 119 [118]; Joh. 5, 39; Röm. 4, 23f; 15, 4; 1. Kor. 10, 11; Eph. 6, 17; Hebr. 4, 12f; 2. Tim. 3, 15ff). Darum sieht Paulus den Hauptvorzug Israels darin, dass ihm die Worte Gottes anvertraut wurden (Röm. 3, 2). Aber Gott muss den Sinn des Lesers und Hörers aufschließen, damit er die Schrift versteht (2. Petr. 3, 16; Luk. 24, 45). Ohne rechte Erklärung bleibt sie vielen ein versiegeltes Buch (Apg. 8, 30f).
Deshalb hat das Konzil von Trient „um ungezügelte Geister in Schranken zu halten, beschlossen, dass niemand es wagen dürfe, im Vertrauen auf seine Klugheit in Sachen des Glaubens und der Sitten, die zum Gebäude der christlichen Lehre gehören, die Heilige Schrift nach seinen Ansichten verdrehend, gegen den Sinn auszulegen, den die heilige Mutter, die Kirche, deren Aufgabe es ist, über den wahren Sinn und die Auslegung der Heiligen Schriften zu urteilen, festgehalten hat und festhält, oder auch gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter, selbst wenn derartige Auslegungen niemals veröffentlicht würden“ (sess. IV. vom 8. April 1546).
Das Vatikanische Konzil hat dieses Dekret erneuert und gegen Missdeutung geschützt (sess. III. cap. 2). Seither haben die Päpste stets ein wachsames Auge auf die Schrifterklärung gehabt, wie es sich zeigt in ihren großen Rundschreiben, in der Einsetzung der Bibelkommission, in der Errichtung des Päpstlichen Bibelinstitutes und in der Forderung der akademischen Grade in der Bibelwissenschaft für jeden, der an den kirchlichen Seminaren und Hochschulen das Lehramt der Schriftauslegung ausüben soll.
Zuletzt hat Pius XII. in seinem Rundschreiben „Über die zeitgemäße Förderung der biblischen Studien“ vom 30. September 1943 die Richtlinien festgesetzt, an die sich die Schriftauslegung zu halten hat. Er nennt die Bücher der Bibel „ein Feld, das sich nie genug bearbeiten, nie vollständig abernten läßt.“
Petrus begründet das Gesagte. Kein von Menschenhand geschriebenes Buch kann sich mit den Schriften vergleichen, die das „prophetische Wort“ enthalten. Wenn also schon bei der Erklärung und Deutung rein menschlicher Worte alle Eigenmächtigkeit unangebracht ist, um wieviel mehr bei den Worten der Propheten! Diese Männer werden nach der einen Textform „heilige Gottesmänner“ genannt. Aber trotz ihrer Heiligkeit hätten sie niemals aus sich eine Weissagung zuwege gebracht. Die das versuchten, werden als Lügenpropheten gebrandmarkt, „die den Leuten nur Wind vormachen und ohne Auftrag des Herrn selbst ersonnene Gesichte verkünden“, wobei sie vor allem bestrebt sind, den Hörern nach dem Munde zu reden (Jer. 23, 16ff).
Der wahre Prophet aber ist ein Werkzeug Gottes; der Heilige Geist trägt oder treibt ihn, wie der Wind das Segelschiff treibt. Der Gottesgeist wirkt mit göttlicher Kausalität so auf den Menschen ein, daß dieser befähigt wird, göttliche Wahrheiten in menschliche Worte zu kleiden und zu verkünden. Die Propheten und Verfasser der Heiligen Schriften haben also „von Gott her geredet“, wie es in den besten Textzeugen am Schluss des Verses heißt. Der Prophet verhält sich nicht rein passiv, wie Philon unter platonischem Einfluss behauptete. Seine persönliche Eigenart bleibt gewahrt, so daß die heiligen Bücher die Merkmale ihrer Entstehungszeit an sich tragen, und den Bildungsgrad ihrer Verfasser widerspiegeln, ohne daß dadurch die Absicht des Heiligen Geistes vereitelt würde.
Die lateinische Übersetzung nennt die heiligen Gottesmänner „vom heiligen Geist inspiriert“ (vgl. 2. Tim. 3, 16). Darum pflegen wir von der „Inspiration“ der Bibel zu sprechen. Durch das wunderbare Ineinandergreifen der göttlichen Einwirkung des Heiligen Geistes und der Tätigkeit des Vernunft begabten menschlichen Verfassers als seines Werkzeuges wird es erreicht, daß die Bücher der Bibel, „weil unter Einhauchung des Heiligen Geistes geschrieben, Gott zum Urheber haben“ (Vatikan. Konzil, sess. III. cap. 2). Deshalb ist die Kirche selbst an die Heilige Schrift gebunden, und kein Papst oder Bischof darf etwas an dem gesicherten ursprünglichen Wortlaut ändern. Gottes heiliges Wort ist der Kirche zu treuen Händen anvertraut, damit sie es von Geschlecht zu Geschlecht weiter gibt, und die Menschen aller Zeiten auf seine unfehlbare Wahrheit verpflichtet bleiben. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI/1, 1950, S. 302 – S. 304