Der Antichrist und die Zeit der Apostasie

Der Antichrist ist der Sohn des Verderbens

5. Das letzte charakteristische Merkmal, von dem ich sprechen will, ist vielleicht schwieriger zu begreifen. Der heilige Paulus spricht von „dem Manne der Sünde“, „von dem Sohn des Verderbens“, der sich widersetzt und sich erhebt über Alles, was Gott heißt, oder göttlich verehrt wird, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt und sich für Gott ausgibt.“ (2, Thess. 2, 4) Diese Worte werden von den Vätern so ausgelegt, daß er göttliche Ehren ansprechen werde, und zwar in dem Tempel von Jerusalem. Der heilige Irenäus sagt, daß der Antichrist als ein Apostat und Räuber den Anspruch erheben werde, als Gott angebetet zu werden, und daß er versuchen werde, sich als Gott zu zeigen“ (St. Iren. Lib. 5, 29) Lactantius: „daß er sich Gott nennen werde.“ (Lact. De divin. Institut. Lib. VII. c. 17) Der Schriftsteller unter dem Namen des heiligen Ambrosius sagt: „er wird behaupten, daß er Gott sei“; der heilige Hieronymus: „er wird sich Gott nennen und verlangen, von Allen angebetet zu werden“ (St. Hieron. In Zach. c. 11); der heilige Johannes Chrysostomus: „er wird sich für den Gott aller ausgeben, sich Gott nennen und als solchen darstellen.“ (St. Joan. Chrys. In St. Joan. Hom. 40) Ebenso äußern sich auch Theodoret, Theophylaktus, Oekumenius, der heilige Anselm und Viele andere.

Suarez sagt bei Erklärung dieser Stelle: „Es ist wahrscheinlich, daß der Antichrist keineswegs selbst glauben werde, was er Andere zu glauben lehren wird. Denn wenn er gleich im Anfange die Juden überzeugen mag, daß er der Messias und von Gott gesandt ist, und vielleicht zu glauben vorgibt, daß das Gesetz Mosis wahr sei und beobachtet werden müsse, so wird er doch alles dies aus Heuchelei tun, um sie zu täuschen und die höchste Gewalt zu erlangen. Denn später wird er das Gesetz Mosis verwerfen und den wahren Gott leugnen, der es gab. Aus diesem Grunde glauben Viele, daß er aus List den Götzendienst zerstören werde, um die Juden zu betrügen. Wie groß seine Treulosigkeit sein wird, und was er wirklich über Gott glauben wird, das können wir nicht mutmaßen. Aber es ist wahrscheinlich, daß er ein Atheist sein, sowohl die Belohnung als die Strafe im andern Leben leugnen, und nur das widernatürliche Wesen verehren wird, von dem er die Kunst des Betruges gelernt und seine Reichtümer gewonnen hat, durch welche Schätze er die höchste Gewalt erlangt.“ (Suarez in III. p. St. Thomae)

Es ist leicht einzusehen, wie er sich Gott entgegen setzen werde, als der Widersacher Christi, und wie er sich über Alles erheben wird, was Gott heißt und angebetet wird, weil er sich, indem er den wahren Messias nachahmt, an die Stelle des menschgewordenen Gottes setzt. Auch ist es nicht schwer einzusehen, wie diejenigen, welche die wahre und göttliche Idee des Messias verloren haben, einen falschen annehmen können, und geblendet von der Größe politischer und kriegerischer Erfolge und aufgeblasen von den pantheistischen und sozinianischen Begriffen von der Würde des Menschen, der Person des Antichrist die Ehre zollen können, welche die Christen dem wahren Messias erweisen. Ich habe dies berührt, weil der heilige Paulus es in der Beschreibung des Antichrist besonders hervorhebt, und weil die Tendenz des Unglaubens, welcher in der Welt in dem Maße zunimmt, als der Glaube abnimmt, die Menschen sichtbar zur Täuschung vorbereitet. –
aus: Heinrich Eduard Manning, Kardinal, Der Antichrist oder die gegenwärtige Krise des heiligen Stuhls, im Lichte der Weissagung betrachtet, 1861, S. 40 – S. 42

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