P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
IV. Von der Übertretung der Gebote oder von der Sünde
§ 1. Von der Sünde überhaupt
Wann man eine Todsünde begeht
Man begeht eine Todsünde, wenn man das göttliche Gesetz in einer wichtigen Sache freiwillig (d. h. mit hinreichender Erkenntnis des Bösen und voller Zustimmung des Willens), übertritt; man begeht hingegen eine läßliche Sünde, wenn man das göttliche Gesetz entweder nur in einer geringen Sache oder nicht ganz freiwillig übertritt.
Damit also eine Sünde als Todsünde zu betrachten ist wird erfordert:
1. Eine wichtige Sache.
Die Wichtigkeit eines Gebotes oder Verbotes erkennt man am besten aus der Strafe, die der Gesetzgeber auf die Übertretung desselben setzt. Wenn z. B. ein weiser und gerechter König etwas unter Todesstrafe gebietet oder verbietet, so können die Untertanen daraus leicht ersehen, dass das Gebotene oder Verbotene eine Sache von großer Wichtigkeit sein müsse. Ebenso verhält es sich nun auch mit dem, was Gott gebietet oder verbietet. Wenn er, der weiseste und heiligste Gesetzgeber, etwas unter Androhung der ewigen Verdammnis gebietet oder verbietet, so können wir nicht zweifelhaft darüber sein, daß die betreffende Sache wichtig ist. Es ist nun allerdings nicht immer leicht zu entscheiden, welche Sünden bei Strafe ewiger Verdammnis, und welche nur unter zeitlicher Strafe verboten sind. Selbst der große Kirchenlehrer Augustinus (Stadt Gottes, Buch. 21, Kap. 27) gesteht die Schwierigkeit dieser Entscheidung ein und fügt bei: „Vielleicht sind wir hierüber im Dunklen, damit wir um so sorgfältiger alle Sünden vermeiden.“ Eine allgemeine Regel, wonach in jedem vorkommenden Falle entschieden werden könnte, ob diese oder jene Übertretung ewige Strafen nach sich ziehe oder nicht, ob sie als eine Todsünde oder als eine läßliche Sünde anzusehen sei, läßt sich nicht aufstellen. Das Sicherste ist, sich bei solchen Entscheidungen nach dem allgemeinen Urteil der Gottesgelehrten zu richten, da dasselbe durchweg auf die hl. Schrift, auf die von altersher überlieferte Lehre der Kirche und auf die Grundsätze der gesunden Vernunft sich stützt. Übrigens ist bei Erklärung des Hauptgebotes, der zehn Gebote Gottes und der fünf Gebote der Kirche bezüglich mancher Fälle die Entscheidung der Gottesgelehrten angegeben und so eine Richtschnur geboten worden, nach welcher man sich in ähnlichen Fällen zu richten hat.
2. Hinreichende Erkenntnis des Bösen.
Wir sagten früher, wenn jemand etwas Verbotenes tut, aber gar nicht weiß, daß es verboten ist, oder wenigstens nicht daran denkt, der sündigt nicht; das Böse, was er tut, wird ihm nicht angerechnet, weil er es nicht als böse erkennt. Nun kann es auch geschehen, daß man bei der Übertretung eines wichtigen Gebotes zwar in etwa weiß, man tue Böses, aber man ist sich nicht bewußt, daß es etwas sehr Schlimmes, daß es eine Todsünde sei. In diesem Falle wird es einem auch nicht als Todsünde angerechnet, weil man nicht die hinreichende Erkenntnis des Bösen hat. Die Erkenntnis des Bösen reicht aber dann hin zu einer Todsünde, wenn einem das Gewissen deutlich sagt, das, was man zu tun im Begriffe stehe, sei schwer sündhaft; es ist nicht notwendig, daß man sich der ganzen Bosheit der Sünde, die man begeht, voll und klar bewußt sei. Also nur dann wird die Übertretung eines wichtigen Gebotes uns aus Mangel an hinreichender Erkenntnis bloß als läßliche Sünde angerechnet, wenn wir dabei nicht wenigstens einigermaßen deutlich erkennen, es sei eine Todsünde. Dies ist allerdings öfters der Fall, besonders bei Sünden, die man im Halbschlaf begeht, desgleichen bei Worten, die gleichsam den Lippen entschlüpfen oder bei Anwandlungen von Rachgier, freventlichen Urteilen unreinen Gedanken, die man nicht so rasch unterdrückt, als man sollte. Von Todsünde ist man jedoch keineswegs frei zu sprechen, wenn man bei Übertretung eines wichtigen Gebotes geflissentlich die Stimme des Gewissens übertäubt, um sie nicht zu hören, oder wenn der Mangel an hinreichender Erkenntnis von schwer verschuldeter Unwissenheit herrührt, wie dieses schon erklärt wurde.
Wie aber ist es, wenn jemand zweifelt, ob das, was er tun will, schwer sündhaft sei oder nicht, und es dann tut? Hier muss man unterscheiden. Dächte ein solcher: „Ich tue es, mag es schwere Sünde sein oder nicht“, – dann würde er sich wirklich einer schweren Sünde schuldig machen, weil er bereit ist, Gott schwer zu beleidigen. Dasselbe wäre der Fall, wenn er sich seinen Zweifel leicht lösen lassen könnte, das aber nicht wollte, sondern die Sache einfach täte. Wäre er aber nicht in der Lage, sich seinen Zweifel lösen zu lassen, bevor er sich entscheiden muss, und dächte nun so: „Wüßte ich, daß es eine Todsünde wäre, so würde ich es um keinen Preis tun; aber soweit ich urteilen kann, ist es doch wahrscheinlich keine Todsünde“ – wenn er es dann täte, so hätte er keine Todsünde begangen, weil er so gesinnt war, daß er um keinen Preis eine solche begehen wollte.
3. Die volle Zustimmung
ist das dritte Erfordernis zu einer schweren Sünde. Das erkannte Böse wird ja nur dadurch zur Sünde, daß der freie Wille sich demselben hingibt, ihm zustimmt. Diese Zustimmung oder Einwilligung kann eine vollständige oder eine unvollständige sein. Letzteres ist dann der Fall, wenn man der Versuchung zum Bösen zwar nicht völlig nachgibt, sie aber auch nicht ernst und entschieden abweist, sondern gleichsam damit spielt und halb ja, halb nein dazu sagt. Eine solche halbe Einwilligung ist stets läßliche Sünde, auch dann, wenn die Sache wichtig und die hinreichende Erkenntnis vorhanden ist. Es wäre aber grobe Selbsttäuschung, zu glauben, man sündige nur läßlich, wenn man z.B. einem Verführer vollständig nachgibt, aber nur ungern, wie man zu sagen pflegt, aus Furcht vor Drohungen u. dgl. Solchen Drohungen muss man widerstehen so gut man kann, und lieber alles leiden als Gott schwer beleidigen. Die hl. Märtyrer sahen die grausamsten Qualen und den sicheren Tod vor sich, wenn sie den Glauben an Christus nicht verleugneten. Hätten sie darum den Glauben ohne Todsünde verleugnen können? Gewiß nicht. Das wußten sie, und deshalb haben sie lieber alles erduldet, als daß sie den Forderungen der heidnischen Tyrannen nachgaben. Es gibt hierin nur einen und zwar seltenen Ausnahmefall, wenn nämlich die Furcht so überraschend und überwältigend ist, daß man nicht mehr recht weiß, was man tut.
Quelle: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 2, 1912, S. 329-331