Bestimmung der Kirche

Sind die schuldlos Irrenden ewig verloren?

Hier drängt sich von selbst die Frage auf: Werden also alle, die wie immer zu einer von diesen eben genannten Menschenklassen gehören, ewig verloren gehen? (siehe den Beitrag: Wer ist Mitglied der katholischen Kirche?) Nein, sondern nur diejenigen werden verloren gehen, welche aus eigener, schwerer Schuld von der katholischen Kirche getrennt sind und deshalb in keiner Weise mit ihr in Verbindung stehen, also weder dem Leib noch der Seele der Kirche angehören. Denn so sicher es ist, daß außerhalb der römisch-katholischen als der allein wahren Kirche Christi kein Heil zu finden ist, ebenso unleugbar ist es auch, daß kein Mensch ohne seine eigene schwere Schuld von Gott zur ewigen Pein verdammt wird. Wer demnach ohne seine Schuld – bloß durch Geburt oder Erziehung – einer Sekte oder einem Schisma angehört, dabei die feste Überzeugung hat, in der wahren Religion zu sein, oder wofern er sie nicht hat, aufrichtig nach der Wahrheit forscht, um dieselbe, sobald er sie erkennt, anzunehmen, und indessen nach bestem Wissen den Willen Gottes tut, der kann auch zur Seligkeit gelangen, und zwar mittelst der Gnaden, die Christus in seiner Kirche zum Heil der Menschen niedergelegt hat. Denn steht ein solcher nicht in sichtbarer Verbindung mit der Kirche, so kann er doch mit ihr unsichtbarer Weise vereinigt sein. Und dieses findet statt, wenn er die heiligmachende Gnade, welche er in der Taufe empfangen hat, entweder nie durch eine schwere Sünde verloren oder doch durch eine vollkommene Reue wieder erlangt hat. In diesen Fällen ist auch er ein lebendiges Glied Jesu Christi, belebt von demselben Hl. Geist, von dem die Kirche lebet ist, hat demnach gleichfalls Anteil an den Gnaden, welche der Kirche von ihrem göttlichen Haupt unsichtbarer Weise zuströmen. –

Dieses ist und war stets die Lehre der Kirche: zu allen Zeiten galt es als ausgemacht, daß nicht einfache Unwissenheit, sondern nur eigene, schwere Schuld vom Reich Gottes ausschließe; ohne Schuld keine Strafe. –

„Diejenigen“, schreibt der hl. Augustin (Br. 43), „welche ihre Meinung, obwohl sie falsch und verkehrt ist, doch nicht hartnäckig verteidigen, zumal wenn sie dieselbe nicht durch eigenen vermessenen Dünkel aufgebracht, sondern von ihren verführten und in Irrtum gefallenen Eltern überkommen haben, ihrerseits aber aufrichtig und sorgfältig die Wahrheit suchen und ihrem Irrtum zu entsagen bereit sind, sobald sie diese gefunden haben, sind keineswegs unter die Häretiker zu zählen.“

Wenn nun auch dem Gesagten zufolge die schuldlos irrenden Brüder nicht ganz von Christus und seiner Kirche getrennt sind und um dieser unsichtbaren Lebensgemeinschaft willen manche Gnaden erhalten, so entbehren dieselben dennoch vieler und großer Vorteile, die wir durch die sichtbare Gemeinschaft mit der Kirche genießen. Das Wort Gottes wird ihnen nicht in seiner ganzen Reinheit und Vollständigkeit verkündigt, dessen Sinn nicht durch das Ansehen der unfehlbaren Kirche verbürgt.Es geht ihnen ab das so gnadenreiche heilige Messopfer, die trostvolle Gegenwart Christi im heiligsten Altarssakrament sowie der stärkende Genuss des wahren Leibes Christi in der hl. Kommunion, die Gnade der priesterlichen Lossprechung, der hl. Firmung, der letzten Ölung usw.; ferner die erhebende Feier des Gottesdienstes, die heilsamen Gebräuche und Segnungen der Kirche.

Wir sollen demnach Gott für die unschätzbare Gnade, daß wir ohne all unser Verdienst vor so vielen andern Kindern der katholischen Kirche sind, höchst dankbar sein. Wir sollen auch durch eifriges und unablässiges Gebet zu Gott flehen, daß alle, die außerhalb der Kirche sind, allseitig wahre Glieder derselben werden und teilhaben mögen an allen Heilsmitteln, welche uns in so reichem Maße zu Gebote stehen. Lieben wir unsere verirrten Brüder und beweisen wir ihnen unsere Liebe auch dadurch, daß wir sie durch einen frommen Wandel gleichsam einladen, einer Mutter sich zu nahen, die so edle Kinder um sich hat, und die mit unbeschreiblicher Sehnsucht ihre Arme nach den Irrenden ausstreckt, um auch sie mit all den Gütern zu bereichern, womit sie ihr göttlicher Bräutigam beschenkt hat. Mehr als alle Überredungskünste wird ein tugendhafter Wandel sie überzeugen, daß es ein unschätzbares Glück ist, Gott zum Vater und die hl. Römisch-katholische Kirche zur Mutter zu haben. –
aus: Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 1, 1911, S. 542-544