Bestimmung der Kirche
Wer ist irrgläubig aus eigener Schuld?
1. Derjenige, welcher die katholische Kirche kennt und von ihrer Wahrheit überzeugt ist, aber in dieselbe nicht eintritt;
2. derjenige, welcher sie erkennen könnte, wofern er redlich forschen wollte, aber aus Gleichgültigkeit oder andern strafbaren Beweggründen zu forschen unterläßt.
1. Solche, welche die katholische Kirche als die einzig wahre kennen und sich der Pflicht bewußt sind, in dieselbe einzutreten, dies aber dennoch nicht tun, gleichen den Gästen im Evangelium, die zum Festmahl des Königs geladen waren, aber unter allerlei nichtigen Vorwänden der Einladung nicht folgten (Matth. 22, 5); sie gleichen ungehorsamen Knechten, die des Herrn Willen kennen, denselben aber nicht vollziehen und darum mit vielen Streichen gezüchtigt zu werden verdienen (Luk. 12, 47); sie haben die kostbare Perle des Reiches Gottes gefunden und werfen sie wissentlich weg; der Schatz der Wahrheit und Gnade liegt vor ihren Augen, und sie nehmen sich nicht die Mühe, ihn aufzuheben. Solche Menschen widerstehen der erkannten Wahrheit; sie sündigen somit wider den Hl. Geist, und zwar um so schwerer, je klarer die Erkenntnis von der Wahrheit der Kirche ist. –
Umsonst geben sie vor, sie könnten auch außerhalb der Kirche den christlichen Glauben im Herzen tragen, das göttliche Gesetz beobachten und einen rechtschaffenen Wandel führen; wer wissentlich nicht tut, was Gott zur ausdrücklichen Bedingung der ewigen Seligkeit gemacht hat, d. h. wer die Kirche seines eingebornen Sohnes erkennt und nicht in dieselbe eintritt, um ihn darin durch den inneren Glauben und das äußere Bekenntnis mit Wort und Tat zu verehren, der macht sich einer schweren Sünde schuldig; auf den finden die oben angeführten Worte des Konzils von Zirta ihre Anwendung: „Wenn er auch noch so löblich zu leben vermeint, so wird er das Leben nicht haben, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.“
2. Es gibt auch Irrgläubige, die im Zweifel sind, ob ihre Kirche die wahre, von Christus gegründete Kirche sei oder nicht. Für solche ist redliches Forschen heilige Pflicht. „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit“, sagt Jesus Christus (Matth. 6, 33), d. h. trachtet vor allem, würdige Mitglieder meiner Kirche zu werden, die das Reich Gottes hienieden ist; trachtet nach der Gerechtigkeit (der Tugend und Heiligkeit), welche sie lehrt: das ist der Weg zum Reich Gottes jenseits, zum Himmelreich. Wer demnach, sei es aus Gleichgültigkeit oder Trägheit, sei es aus irdischen Rücksichten oder aus der Furcht, die Wahrheit in der katholischen Kirche zu finden, die redliche Forschung unterläßt, der kann von einer schweren Versündigung gegen Gott nicht freigesprochen werden. Und wer die besagte Forschung oder auch die Rückkehr zur katholischen Kirche zwar vorhat, dieselbe aber von Tag zu Tag verschiebt, der mag zusehen, daß es ihm nicht ergehe wie den törichten Jungfrauen, die, von der plötzlichen Ankunft des Bräutigams überrascht, vom Hochzeitsmahl ausgeschlossen wurden.
Ob nun dieser oder jener Mensch in verschuldetem oder unverschuldetem Irrglauben lebe, darüber steht nicht uns, sondern Gott allein das Urteil zu. Gott allein ist es, „der Herzen und Nieren erforscht“ (Ps. 7, 10), er allein ist es, „der das Verborgene der Menschen richten wird“ (Röm. 2, 16); uns gelten die Worte des Apostels: „Richtet nicht vor der Zeit, ehe der Herr kommt, welcher auch das im Finstern Verborgene an das Licht bringen und die Absichten der Herzen offenbar machen wird.“ (1. Kor. 4, 5)
Auch die Kirche erlaubt sich hierüber kein Urteil. Denn obschon sie den Grundsatz festhält, dass außer ihr kein Heil zu finden sei, so läßt sie doch das ewige Heil der einzelnen Irrgläubigen dahin gestellt, weil sie nicht weiß, wer mit oder ohne eigene Schuld irrgläubig ist. Indem sie den Irrtum verdammt, ist sie weit entfernt, den Irrenden zu verdammen. –
Selbst dadurch, dass sie für die außer ihrer sichtbaren Gemeinschaft Verstorbenen öffentliche Gebete weder verrichtet noch erlaubt und ihnen das katholische Begräbnis verweigert, erklärt sie keineswegs, daß die Seelen der Irrgläubigen ohne Ausnahme von Gott ewig verstoßen seien, und dass ihnen das Gebet nicht mehr nützen könne. Wäre dieses der Grund des gedachten Verfahrens, so müsste sie folgerichtig auch verbieten, dass man in seinen Privatgebeten der verstorbenen Irrgläubigen eingedenk sei. Dieses aber hat die Kirche niemals untersagt. Sie handelt nur darum so, weil sie als die eine, wahre Kirche Christi diejenigen, welche angesichts der Welt bis zu ihrem Ende in offenkundiger Trennung von ihr lebten, nach dem Tode nicht als die Ihrigen anerkennen kann. Würde sonst die Kirche nicht sich selbst widersprechen? Würde sie nicht eingestehen, daß sie die lebenden Irrgläubigen mit Unrecht aus ihrer sichtbaren Gemeinschaft ausschließe, da sie die Verstorbenen ohne weiteres als Glieder derselben behandelte? Würde sie durch ein solches Verfahren nicht Anlass geben zu glauben, die bis zum Hinscheiden fortgesetzte Auflehnung gegen ihr göttliches Ansehen sei eine gleichgültige Sache? Die Kirche als sichtbare Körperschaft kann nur Rücksicht nehmen auf die nach außen sich kundgebende Schuldbarkeit; sie übersieht dabei aber nicht, dass Gott die innere Schuldbarkeit ins Auge faßt, die keineswegs immer mit der äußeren zusammen fällt.
Aus dem Gesagten ergibt sich, mit wie wenig Recht man die katholische Kirche der Unduldsamkeit (Intoleranz) beschuldigt. Auf was läuft denn der Grundsatz hinaus, der bei den Andersgläubigen so großen Unwillen erregt, wiewohl sie ihn selbst in ihren früheren Glaubens-Bekenntnissen aufgestellt haben, – der Grundsatz nämlich: „Außer der Kirche kein Heil“? Er läuft einfach auf den allgemeinen Satz hinaus: „Wer im Zustand schwerer Schuld lebt und sich vor seinem Tod nicht bekehrt, der kann nicht selig werden.“ Was ist nun aber an diesem Satz zu tadeln? Wo ist der gläubige Protestant, der ihn nicht für wahr hielte? Es reicht hin, kein Gottesleugner und kein erklärter Ungläubiger zu sein, um denselben annehmen zu müssen. Diese und keine andere ist nun aber die Lehre der Kirche. –
Es wäre leicht nachzuweisen, dass die bürgerliche Duldsamkeit, die darin besteht, daß Anhänger verschiedener Religionen ruhig und friedlich in ein und demselben Staat zusammen leben und alle der bürgerlichen oder verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten genießen, von den Katholiken weit besser als von den Nicht-Katholiken geübt wird. Aber nie und nimmer kann die katholische Kirche jene Duldsamkeit anerkennen, vermöge welcher man alle Religionen für gleich gut und zum Heil dienlich hält und keine als falsch zu verwerfen wagt (siehe den Beitrag: Pius XII. über die religiöse Toleranz); denn das hieße nicht bloß gegen Gott, die ewige Wahrheit, sündigen, sondern auch unvernünftig denken und handeln. (Siehe Perrone, Der Protestantismus und die Glaubensregel, Tl. 2, Hpst. 4, Art. 2) –
aus: Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 1, 1911, S. 544 – S. 546