1. Brief des hl. Johannes Kap. 3 Vers 13-21

Die Pflicht der Bruderliebe und ihre Frucht: die Gemeinschaft mit Gott

Jener Gegensatz, von dem in Vers 12 die Rede war, und der daraus entquellende Hass besteht und wirkt weiter in der ganzen Menschheit. Deshalb dürfen de Christen sich nicht wundern darüber, dass die Welt sie hasst. Sie wissen es doch selber, dass sie in einer ganz anderen Region leben als die Kinder der Welt, dass sie sozusagen einem ganz anderen Land angehören. Denn das griechische Wort für „hinüber schreiten“ wird besonders gerne verwendet im Sinne von „die Wohnung wechseln“, „umsiedeln“. Diese Bedeutung schwebt auch hier dem Verfasser vor Augen. „Wir sind umgezogen, übergesiedelt“ in ein anderes Land, das Land des Lebens. Das ist die Kirche, von der der Apostel hier deutlich spricht, ohne das Wort „Kirche“ zu gebrauchen.

Denn tatsächlich bilden die Christen innerhalb dieser Welt eine ganz neue Gemeinschaft und jeder fühlt sich als Glied dieser neuen Gemeinschaft ausgeschieden und dem Wesen nach getrennt von der weltlich-bürgerlichen Gemeinschaft, in der er seinen irdischen Pflichten nachgeht. Das war das Kirchengefühl des ersten Christen, das stolze und beglückende Gefühl, dem „Reich des Lebens“ anzugehören, in das er ausgewandert ist bei seiner Bekehrung zum Christentum, während die anderen noch im Land des Todes wohnen. Denn es war keine bloße dogmatische Betrachtung, wenn der heilige Johannes schrieb: „Wir sind hinüber geschritten in das Leben.“ Sondern seine ersten Leser haben dieses „Leben“ deutlich in sich gespürt. Eine lange Zeit ist seither verflossen, seitdem der Apostel diese Worte schreiben konnte! –

Nur wer liebt, kann Bürger sein dieses Land des Lebens. „Wer nicht liebt, bleibt im Tod.“ Das ist auch ganz klar. Denn „jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Menschenmörder“. Schon der Heiland hatte in der Bergpredigt den Hass und den Mord auf die gleiche Stufe gestellt (Matth. 5, 21ff). Und mit Recht. Denn Gott fällt sein Urteil nicht nach der äußeren Handlung, sondern nach der inneren Gesinnung, aus der jene hervor gegangen ist. In dieser Hinsicht aber unterscheidet sich der einfache Hass höchstens dem Grad nach von der Handlung des Mordes, die vielleicht nur aus äußeren Umständen oder aus Mangel an Mut u. dergl. unterblieben ist. Und wer auch dem Nächsten nicht direkt das Leben raubt, kann in seinem Hass vieles von ihm töten. Er kann seine soziale Existenz töten, so weit es an ihm liegt, kann seine Ehre vernichten, seine Lebensfreude vergiften, seinen Lebensmut lähmen, kann schuld sein, dass dessen Liebe und Vertrauen erfroren sind. Wie viele Lebensblüten zerknicken und zertreten die Menschen einander in boshafter Freude! Es bleibt dabei: „Wer seinen Bruder hasst, ist ein Menschenmörder.“ Und das wissen auch die Leser des Briefes – ihr gesundes menschliches Empfinden sagt es ihnen ebenso wie die allgemein geübte Gerichtspraxis: dass ein Mörder des Todes schuldig ist. Wenn ein solcher aber schon sein an sich vergängliches irdisches Leben verwirkt hat, dann ist erst recht klar, dass er nicht das ewige Leben haben kann, das doch seiner Natur nach ein dauernder Besitz ist.

Was aber Liebe ist, das ist uns klar geworden an dem Beispiel Jesu Christi: „Er hat sein Leben für uns dahin gegeben“ (vgl. Joh. 15, 13). Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit, dass „auch wir verpflichtet sind, für die Brüder das Leben hinzugeben“. Diese äußerste Leistung der Liebespflicht wird freilich nur in Ausnahmefällen gefordert sein. Um so mehr aber drängt die Liebespflicht des alltäglichen Lebens, wenigstens mit den minderwertigen Gütern der Welt nicht zu geizen, wenn der Not leidende Bruder ihrer bedarf. Der Apostel macht das, ähnlich wie Jakobus (Jak. 2, 16) klar an einem krassen Fall des Gegenteils: „Wenn einer die Güter der Welt besitzt und seinen Bruder Not leiden sieht und sein Herz“ – das in natürlich menschlichem Empfinden sich von selber öffnen möchte – „vor ihm verschließt, wie kann in dem die Liebe Gottes verweilen?“ Auch hier ist wohl nicht die Liebe des Menschen zu Gott gemeint, sondern die Liebe Gottes zum Menschen. Einen solchen lieblosen Menschen kann der Gott, dessen Wesen die Liebe ist (4, 8), unmöglich lieben. Auch nicht, wenn er täglich zur Kommunion geht und sehr viele Gebete spricht.

„Kinder, wir wollen also nicht mit Worten lieben und mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit.“ Auch das teilnehmende oder ermunternde Wort kann allerdings ein Liebeswerk sein, wenn es nicht nur mit der Zunge gesprochen wird, sondern aus dem mitempfindenden Herzen kommt. Ja, ein solches Wort ist sehr oft eine viel größere und fruchtbarere Liebesgabe als ein mit kalter Miene und herablassender Geste gespendetes Almosen, und die Menschen dürsten nach solchen leider nur zu seltenen Worten. Aber die wahre Liebe bleibt, wo sie es kann und der Fall es erfordert, nicht beim Wort stehen, sondern äußert sich in der Tat. „Daran werden wir erkennen, dass wir aus der Wahrheit sind.“ Das „Und“ vor dem „Daran“, das viele Handschriften bieten, ist ohne Zweifel falsch und nach anderen Stellen gedankenlos eingefügt worden. Denn der Satz bezieht sich nicht, wie sonst, auf das Folgende, sondern auf das Vorhergehende: An dieser wahrhaftigen Liebesübung werden wir erkennen, dass wir selber „aus der Wahrheit sind“.

 

Der Apostel hätte auch, wie er sonst pflegt, schreiben können „aus Gott“. Aber das eben vorher gehende Wort „Wahrheit“ ist ihm wieder in die Feder geflossen. Nicht ohne Gedanke. Denn die Wendung (vgl. Joh. 18, 37) besagt zwar im Grunde dasselbe wie „aus Gott“, gibt aber dem Gedanken noch eine besondere Zuspitzung. Gott ist ja die Wahrheit (vgl. zu Joh. 14, 6), und Christus ist die Wahrheit, insofern Gott durch ihn sich offenbart. Wir erweisen uns durch unsere Liebe als „aus der Wahrheit“ stammend, insofern wir zeigen, dass die von Gott durch Christus uns zugekommene Wahrheit tatsächlich unser ganzes Denken und Handeln bestimmt.

Der Verfasser wollte nun eigentlich weiter fahren mit dem, was in Vers 21ff. kommt: Weil wir uns so durch die von Gott stammende Wahrheit bestimmen lassen, sind wir also wirklich Kinder Gottes und dürfen uns mit freudiger Zuversicht Gott nahen in dem Bewusstsein der innigsten Lebensgemeinschaft mit ihm. Das Wort parrhesia = „freudige Zuversicht“ von Vers 21 steckt ihm also bereits in der Feder, während er den ersten Satz von Vers 19 schreibt. Aber die Erinnerung an den tatsächlichen Seelenzustand seiner Leser – und nicht nur dieser – hält ihn noch zurück. Denn tatsächlich vermag jene „freudige Zuversicht“ auf Gott nicht recht hoch zu kommen auch in den Herzen derer, und gerade derer, die ehrlich nach der Liebe streben, weil das Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit nicht nur in der Liebe sondern auch in den anderen Gebieten der Moral zu sehr darauf drückt. Diesen Druck gilt es also erst zu beheben: „Und wir werden vor seinem Angesicht unser Herz beruhigen.“

Wenn wir, von unseren Gewissensnöten bedrängt, gleichsam mit unserem uns anklagenden Herzen wie mit einem Gegner zusammen vor Gottes, des Allwissenden und Allgerechten Angesicht treten und die Anklagen unseres Herzens gegen uns, die ja durchaus nicht alle aus bloßen Skrupeln bestehen, da es wirklich sehr sehr vieles an und zu verurteilen gibt, überprüfen, dann werden wir trotzdem unser anklagendes Herz beruhigen können in dem Gedanken (wörtlich: wir werden es davon überzeugen) „daß Gott größer ist als unser Herz und alles weiß“. Gottes Liebe und Gottes Wissen sind eben beide unendlich groß. Und „er weiß alles“ (vgl. Joh. 21, 17). Er weiß nicht nur unsere Fehler und Sünden viel besser als wir, er weiß auch all die Hemmnisse, in die wir schwache Menschen eingeschlossen sind. Und vor allen Dingen, er weiß und kennt auch den ehrlichen Liebeswillen, der unter diesen Hemmnissen und Schwachheiten und Fehlern und Sünden sich immer wieder regt und Anstrengungen macht, daraus hervor zu klettern. Und weil er das alles weiß, deshalb sieht er in seiner unendlichen Liebe über diese Fehler und Sünden hinweg, zumal wir ja „einen Fürsprecher haben beim Vater, Jesus Christus, den Gerechten“ (2,1).

Wenn einen von vorne herein sein Herz nicht anklagt, weil er im Bewusstsein seiner Gotteskindschaft ein ruhiges Gewissen hat, oder wenn einer sein ihn anklagendes Herz durch die Erwägung von Vers 20 beruhigt hat, so dass es ihn jetzt nicht mehr anklagt, „dann haben wir freudige Zuversicht zu Gott“ und diese freudige Zuversicht wird vermehrt und findet zugleich ihre Bestätigung dadurch, dass wir „von ihm erhalten, um was wir bitten“ (vgl. Matth. 7, 7; Joh. 14, 13; 15, 7; 16, 23ff). Denn wir halten ja auch seine Gebote, was zur Erhörung unserer Gebete ebenso notwendig ist wie das Beten im Namen Jesu, und „tun, was vor ihm wohlgefällig ist“, so wie Christus selber stets getan hat (vgl. Joh. 8, 29). –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 498 – S. 501