1. Brief des hl. Johannes Kap. 3 Vers 22-24
Die zwei Grundpfeiler des Christentums sind Glaube und Liebe
Wenn der Verfasser diese Bemerkung vom Halten der Gebote hier anfügt, so tut er das allerdings weniger wegen dessen eben erwähnter Notwendigkeit zur Erhörung unserer Gebete, als in der Absicht, überzuleiten auf das Hauptthema des Briefes, das er von nun an bis 5,12 behandeln will: den inneren Zusammenhang zwischen dem schon besprochenen (2, 18ff) richtigen Glauben an Christus und der Bruderliebe, diesen zwei Grundpfeilern des Christentums. Deshalb fährt er fort: „Und das ist sein Gebot, dass wir an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und einander lieben gemäß dem Gebot, das er (Christus) uns gegeben hat.“ „Und wer seine Gebote hält“ – seine Gebote heißt es diesmal statt des eben gebrauchten Singulars, weil das eine Gebot der Bruderliebe eine Fülle von moralischen Pflichten in sich schließt -, „der bleibt in ihm“, wie das der Verfasser schon einmal gesagt hat (2, 24). Hier aber fügt er noch hinzu: „und er in ihm“ (vgl. Joh. 15, 4).
Denn dieses gegenseitige Ineinandersein stellt eben die vollendete Lebensgemeinschaft dar. Wenn auch dieses innige Ineinandersein – in theologischer Schulsprache nennt man es die heiligmachende Gnade – etwas tief in der Seele Verborgenes ist, das sich nicht einmal dem Bewusstsein des betreffenden Menschen unmittelbar kund tut, so haben die Leser doch ein sicheres Anzeichen dafür: die Wirkungen des in ihnen wohnenden Heiligen Geistes: „Daran erkennen wir, dass er in uns bleibt: aus dem Geist, den er uns gegeben hat.“
Dieser letzte Satz sagt uns heutigen Lesern ja eigentlich nichts mehr und erscheint uns nur wie eine lebensferne dogmatische Formel. Ja, es will uns vorkommen, als habe der Verfasser damit einen richtigen circulus vitiosus begangen. Wir hätten das Umgekehrte erwartet: Aus dem Halten seiner Gebote erkennen wir, dass er uns seinen Geist gegeben hat. Denn wie soll auf einmal der Besitz des Geistes, der doch etwas ganz Unsichtbares ist, zum sichtbaren Erkennungszeichen der Gemeinschaft mit Gott werden?
Aber für die ersten Leser des Briefes hatte dieser Satz einen ganz anderen Klang. Für sie war „der Besitz des Geistes Gottes“ nicht nur ein abstraktes dogmatisches Lehrstück. Sie spürten diesen Geist. Denn seit sie Christen geworden waren, erfüllte sie nicht nur eine ganz neue Lebensanschauung, die ihnen einen bisher gänzlich unbekannten Sinn des Lebens enthüllte. Sie verspürten in sich ein ganz neues Lebensgefühl, fühlten sich durchdrungen von einer bisher nicht gekannten Lebenskraft, einer Kraft, die sie empor hob über die Widerwärtigkeiten und Leiden dieses irdischen Lebens, die einzelne und später viele von ihnen zu Heldentaten des Martyriums befähigte, die sie antrieb zur Verfolgung ganz neuer sittlicher Ziele, in denen sie nunmehr ihre eigentlichen Lebensziele erkannten. Das war die Kraft des Geistes, der „die Kinder Gottes treibt“, eines gänzlich neuen, deutlich spürbar über sie von oben gekommenen und von ihrem eigenen natürlichen Geist so grundverschiedenen Geistes. Der Verfasser beging also keine circulus vitiosus, wenn er sie an dieses persönliche Christenerlebnis, das lebendigste, das sie je empfunden hatten, und das mit unverwelkter Lebendigkeit in ihnen weiter wirkte, erinnerte. Ist doch dieser Geist nach dem heiligen Paulus „das Angeld, das Gott bereits in unserem Herzen deponiert hat“ (2. Kor. 1, 22), der in unserer Seele wohnende Zeuge, der „in Übereinstimmung mit unserem Geist bezeugt, dass wir Kinder Gottes sind“ (Röm. 8, 16). Dieser Geist ist es auch, der sowohl den rechten Glauben als auch die Liebe bewirkt (Vers 23).
S. 501-502