Liberalismus und Reformkatholizismus

Übernatürlichkeit spielt keine Rolle

Prüfen wir weiter: Eine Reform des Katholizismus muss selbstverständlich vor allem eine religiöse Reform sein. Ihre primären Triebkräfte und Hilfskräfte sind daher religiöse, die übernatürlichen Heilskräfte und Gnadenmittel, der Glaube, die Sakramente, das Messopfer, das Gebet, die Beicht. Das Sakrament der Buße ist das eigentliche Reformsakrament. „Die Ohrenbeichte hätte man uns nie nehmen sollen“, sagt Goethe. Hat man jemals gehört, daß einer der heutigen Reformer die Katholiken auch zum Gebet, zur Buße, zur Beichte ermahnt hätte? Und doch ist dies die Vorbedingung jedes Heils. Man soll das Pferd nicht hinter den Wagen spannen.

Die falschen Reformer aller Zeiten sind daran zu erkennen, daß in ihren Plänen gerade die religiösen, übernatürlichen Kräfte keine Rolle spielen, wie kaltgestellt, wie ausgeschaltet erscheinen. Neuerdings reden sie immer von „religiösem Katholizismus“.

Da würde man erwarten, daß sie die religiösen Reformkräfte am höchsten einschätzen, die religiösen Pflichten am meisten premieren würden. Aber davon ist keine Rede. Ihr Tun entspricht nicht, es widerspricht vielmehr ihren Worten. Das ist die innere Unwahrheit, der Pharisäismus in diesen Bestrebungen. Eine Reform mit doppeltem Boden lehnen wir ab. Es läge nahe, Namen zu nennen; ich stehe davon ab, um so mehr, da der, welcher das Stichwort geprägt hat, nicht mehr unter den Lebenden ist; er mag ungenannt bleiben, da er jahrelang namenlos oder unter Decknamen mit seiner Feder der Kirche namenlos geschadet hat. Religiösen Katholizismus hat der hl. Franziskus gepredigt und betätigt. Warum folgen die modernen katholischen Reformer nicht ihm? Sie mögen uns verschonen mit ihrem „religiösen Katholizismus“, der keiner ist. Wahrhaftigkeit ist die erste aller Pflichten. Solche Reformen kranken an dem Mangel einer inneren Wahrhaftigkeit. Goethe sagt: „Niederträchtig ist, wer von andern das verlangt, was er selbst nicht leistet.“ Und Jesus sagt von den Schriftgelehrten: „Tuet nach ihren Worten, nicht nach ihren Werken.“ Die heutigen Reformer führen das Schlagwort „religiöser Katholizismus“ im Munde; aber tatsächlich lassen sie das Religiöse beiseite und machen in Kultur und Politik. Die so vorgehen, sind entweder gänzlich unklare Köpfe, oder Lügner, oder beides. Der Liebesjünger schreibt: „Wenn wir sagen: wir haben Gemeinschaft mit Ihm, und wandeln doch in der Finsternis, so sind wir Lügner und handeln nicht nach der Wahrheit“ (1. Joh 1,6). Jene Reformer fordern „religiösen Katholizismus“ und leisten „gebildeten Katholizismus“, der das gerade Gegenteil von jenem ist. Das ist ein doppeltes Spiel; das ist ein widerwärtiges Phrasentum. Man gibt ferner vor, den Katholizismus bloß von seiner kulturellen Seite ins Auge fassen zu wollen, im Absehen von der innerkirchlichen, innerreligiösen Seite desselben. Das ist unmöglich. Als religiöser Faktor wirkt der Katholizismus zugleich kulturbildend im höchsten und wahrsten Sinne; diese seine kulturbildende Kraft läßt sich von seiner religiösen Lebenskraft gar nicht trennen, läßt sich nur mit ihr steigern. Religion ist die höchste Kultur. Dies übersehen jene Reformer.

Eine Reform des Christentums, des Katholizismus muss wie diese selbst den Menschen im innersten Innern erfassen und bessern. Daher ist sie immer eine Reform des Gesamtmenschen, der Seele, des Willens, des Charakters, des Gewissens, nicht aber eine bloße Reform des Verstandes und des Wissens.

Reformamini in novitate sensus vestri (Rom 12, 2). Renovamini spiritu mentis vestrae et induite novum hominem (Eph 4, 23 24).

Der ganze katholische Glaube, das ganze katholische Leben ist Sache der Seele, ist Sache des Herzens. Reform des Katholizismus kann daher auch nicht aus dem Kopf kommen, sondern nur aus dem Herzen; sie wird nie einseitig an Verstand und Urteil appellieren; sie wird vor allem moralische, und erst in zweiter Linie oder gar nicht intellektuelle Zwecke verfolgen. So hat Christus reformiert, so St. Franziskus, so St. Bernhard.

Der gemeinsame Hauptfehler aller falschen Reformer ist der Rationalismus ihres Denkens und Wollens. In ihm liegt auch der Schwerpunkt ihres Vorgehens. Sie wollen die Reform aus dem Kopf konstruieren.

Das Ausschlaggebende, Wertbestimmende ist und bleibt beim Einzelnen wie bei den Völkern nicht der Intellekt, sondern die Sittlichkeit. „Das Gehirn tyrannisiert heutzutage die Seele“, sagt der spanische Priester und Dichter Verdaguer ungemein treffend. „Die Moralität wird schließlich immer über die Intellektualität den Sieg davontragen“, verkündigt selbst das offizielle Organ des französischen Poſitivismus (Revue occidentale 1902, IT 139). Und der gesunde Menschenverstand, von sich aus, sagt jedem das gleiche. Charakterschwäche und Charakterlosigkeit ist die eigentliche Krankheit unserer Zeit. Darum muss jede wahre Reform Charakterreform sein. Es ist wichtiger, Charaktere zu bilden, als Charakterbilder zu schreiben. Die moderne Menschheit ist so weit, daß sie beinahe die ganze Welt gewonnen hat; aber an der Seele hat sie nicht bloß Schaden gelitten, sondern sie hat die Seele so gut wie verloren.
Gibt es etwas Seelenloseres als die „moderne“ Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft, Literatur und Kunst? Seelische Reform ist daher vonnöten, nicht Verstandesreform. Glaube wie Einsicht lehren das gleichmäßig.

Quelle: Paul Wilhelm v. Keppler, Bischof, Wahre und falsche Reform, 1903, S. 15-19