Liberalismus und Reformkatholizismus

Das Tun und Treiben falscher Reformer

Überblicken wir nun das Tun und Treiben der heutigen katholischen Reformer. Gehen sie tatsächlich auf eine Reform im oben erläuterten Sinne aus? Keineswegs. Sie geben vor, den Katholizismus, das Christentum dadurch regenerieren zu wollen, daß sie dieselben auf das Wesentliche reduzieren, das Unwesentliche abstreifen. Was wesentlich, was unwesentlich ist, wollen natürlich sie entscheiden. Das kann ihnen nicht verstattet werden. Ihre Auffassung ist nur zu oft eine schülerhafte, mechanische. Was sie vom Katholizismus abtun, abstreifen wollen, ist oft gerade die lieblichste Blüte, der süßeste Duft desselben. Hier fehlt der Verstandesbildung das feinere Urteil, die innerliche Durchbildung, der Sinn fürs Geschichtliche, Seelische, Gotterfüllte. So geht es Stubengelehrten und Literaten gerne.

Statt des seelischen Innenlebens betonen die falschen Reformer das äußere Verstandesleben der Katholiken. Das ist seicht. Dagegen muss man sich verwahren. Hier ist Geist und Seele vonnöten, nicht bloß Verstand.
Die echte, katholische Kultur hat dahin zu streben, daß der gebildete Katholik nicht nur mehr glaubt, sondern auch mehr weiß als der gebildete Akatholik. Sein Wissen soll sich aber vorwiegend auf seelische, nicht auf verstandesmäßige Werte erstrecken. Seine Bildung wird mehr mittelalterlich als „modern“ sein. Äußerlich grob, innerlich edel ist der Geist des Mittelalters; äußerlich kultiviert, innerlich gemein ist der Geist der „Moderne“, Die Katholiken fahren also immer noch besser, wenn sie sich an jenen, statt an diesen halten. Wer den Lockungen der „Moderne“ folgt, gerät in äußerste Seelengefahr. Gibt man dem Teufel den kleinen Finger, so nimmt er die ganze Hand.

Das Christentum und der Katholizismus können nur reformiert werden in dem Geist und aus dem Geist, der beide ins Leben gerufen hat und beide beseelt. Der Heilige Geist allein darf hier maßgebend sein, muss die Seele jeder kirchlichen Reform sein. Diese wird zunächst darin bestehen, daß dem Eindringen des gottesfeindlichen Geistes, des Geistes der Hölle, der Welt, der „Zeit“ in die Kirche gewehrt wird.

Ein untrügliches Symptom falscher Reformbestrebungen ist es daher, wenn dieselben nicht im Namen des Heiligen Geistes, sondern im Namen des „Geistes der Zeit“ ans Werk gehen. Diesen als Richter, als Korrektor, als Reformator der Kirche zulassen, heißt sie herabwürdigen.

Man sieht den Katholizismus für veraltet an und sieht nicht, wie senil die moderne Kultur und Menschheit ist und wie dringend sie einer Verjüngung bedarf, die niemand anders ihr bringen kann als Christentum und Kirche. Senil zu sein und jugendlich zu tun ist speziell modern und kennzeichnet die gesamte moderne Welt. Schon ihr obstinates Nichtglauben-Wollen ist Senilität, ist das absolute Gegenteil von Kindlichkeit, Jugendlichkeit. Sie hat keine roten Wangen, sie zeigt abgelebte, schlaffe Züge und einen kahlen, schuldigen Scheitel. Reformieren heißt verjüngen; aber das Christentum kann nicht durch die „Moderne“ verjüngt werden, die Moderne muss durch das Christentum verjüngt werden. Bloßes Wissen ist und macht alt; Glaube ist und macht jung. Jugend glaubt, Alter zweifelt.

Es heißt den Katholizismus schlecht beraten, es zeugt von Mangel an politischem Sinn, wenn man ihm zumutet, sich durch Konzessionen, Kompromisse, Abstriche in der modernen Welt das Existenz- und Wohnrecht zu erkaufen oder zu erschleichen. Die das tun, sind nicht seine Vertreter, sondern seine Verräter. Sie mögen übrigens noch so viele Abstriche und Zugeständnisse machen: sie werden dem Haß und der Verfolgung der Welt nicht entgehen, solange sie nicht ihre Kirche ganz aufgeben. Was der modernen Welt und Kultur am Christentum zuwider ist, ist in intellektueller Hinsicht das Wunder, in sittlicher Hinsicht die Autorität. Was hilft es den Kompromiss-Katholiken, um ersteres so viel als möglich sich herumzudrücken, letzterer sich so viel als möglich zu entziehen? Ehe sie nicht das Wunder ganz leugnen und die Autorität ganz verleugnen, können sie bei den Modernen doch nicht zu Gnaden kommen.

Die Hoffnung, durch Kompromisse und Konzessionen „moderne“ Menschen fürs Christentum und den Katholizismus zu gewinnen, iſt nichtig. Wer ganz ins Moderne verstrickt ist, ist vorerst nicht zu gewinnen. Wer des Modernen satt geworden, ist nur zu gewinnen durch etwas total anderes, durch ein echtes Glaubensleben, ein unverfälschtes, unverkümmertes Christentum, nicht durch ein modernisiertes Christentum, nicht durch einen Margarine-Katholizismus. Die Geschichte der Konversionen beweist es hundertfach, daß zu allen Zeiten die edelsten Akquisitionen zu verdanken sind nicht einem „Christentum für den Mindestbietenden“ (wie der Protestant Francis de Pressensé sich ausdrückt), sondern der gerade blickenden Seele, der liebevollen Strenge, dem lichtspendenden Dogma, der stählernen Autorität des Katholizismus der Jahrtausende. Daher schlagen jene modernen Reformer ganz falsche Tasten an, um die der Kirche fremd Gegenüberstehenden zu gewinnen. Sie schämen sich der besten Eigenschaften ihrer Mutter; infolgedessen schrecken sie ab, statt anzuziehen; sie arbeiten gegen ihr eigenes Interesse, gegen ihre eigenen Absichten. „Den Weg der Zucht erkannten sie nicht, und nicht verstanden sie deren Pfade“ (Bar 53, 20 21).

Sie gehen irre und führen irre; sie haben selbst Wohlmeinende getäuscht – einmal auch mich. Aber die Folgen des französischen Amerikanismus, den man jetzt auch bei uns importieren will, müssen jedem die Augen öffnen. „Beuge vor“, sagt Shakespeare. Wir wollen in Deutschland nicht erst abwarten, bis wir so und so viel hundert abgefallene Priester haben. Der hl. Franziskus hat uns gewarnt. Als er gefragt wurde, ob es überhaupt gut sei, zu studieren, antwortete er: man solle studieren, doch nicht so, daß die Frömmigkeit darunter leide. Diese einfältige Weisheit wird heutzutage vernachlässigt. Der Kernpunkt der ganzen Frage über wahre und falsche Reform ist ausschließlich: auf welcher der beiden Seiten das praktische Unrecht, das praktische Unheil liegt? Niemand wird hierüber zweifelhaft sein können, der die heutigen französischen Kirchenzustände kennt. Dort hat die „Frömmigkeit“ vieler Geistlichen und Laien durch das „Studium“ der geistigen Führer der falschen Reformbewegung gelitten. Diese studieren protestantische und modern-philosophische Werke, denen sie geistig nicht gewachsen sind, deren Trugschlüsse und Truglehren sie nicht zu durchschauen vermögen, und verderben dadurch zunächst ihre, dann andere Seelen. Ähnliches gilt von manchen deutschen Pseudoreformern, welche „Bildung“ als Allheilmittel für katholische Übel anpreisen. (siehe den Beitrag: Liberalismus und Reformkatholizismus)

Wer beispielsweise den Zölibat bekämpft und den Laienkelch fordert – es gibt solche „Reformer“, und sie werden von ihren andersdenkenden „Mitreformern“ durchaus nicht völlig abgeschüttelt -, ist unreif und unfähig für jede Erörterung von katholischen Reformfragen. Dies sei hier ein für allemal festgestellt. Grundsäulen des kirchlichen Lebens dürfen nie durch eine Reform angetastet werden. Roma intangibile. –
Quelle: Paul Wilhelm v. Keppler, Bischof, Wahre und falsche Reform, 1903, S. 9-15