Liberalismus und Reformkatholizismus

Eine katholische Reform geht über den Kalvarienberg

Der katholische Geist und der katholische Charakter haben gemeinsam der katholischen Pietät zu dienen. Es ist die Aufgabe der echten Katholiken, der heutigen Bildungsheuchelei ein Ende mit Schanden zu bereiten. Jene trifft es vor allem, wenn uns der Heilige Vater mahnt, daß wir „der verkehrten Strömung des Jahrhunderts nicht nur nicht nachgeben, sondern ihr kräftigen Widerstand leisten“ sollen (Leo XIII., Enzyklika vom 8. Dezember 1902). Und das gleiche gilt vom Zwischenkatholizismus, von jenem „Katholizismus“, der sich zwischen zwei Stühle setzen will: zwischen Autorität und „Bildung“, zwischen Gott und Welt, zwischen Petri Stuhl und den Logenstuhl. Es gibt keine Worte, um die Kläglichkeit solcher Anschauungen zu kennzeichnen. Sie beruhen auf völliger innerer Impotenz. Die falsche Reform geht darauf aus, den heutigen Falschgebildeten den Katholizismus, sowie auch die heutige Falschbildung den Katholiken genehm zu machen; das ist verkehrt und unmöglich. Das ist eben Amerikanismus. Die wahre Reform ist diejenige, welche den Katholizismus stärker macht eben jenen Falschgebildeten gegenüber. Diejenigen Katholiken, welche verblendet genug sind, sich von Jener ersteren einfangen zu lassen, kann man nur bedauern. Sie sägen den Ast ab, auf dem sie sitzen. Die wahre Reform will sich mit Gott, die falsche will sich mit der Welt versöhnen. „Mehr Charakter“ ist die Losung, die man den Katholiken zurufen muss. Nur dieser wird sie befähigen, dem Buchstaben und Geist des katholischen Katechismus, nicht ersterem allein nachzuleben. Wie Luther sich auf den Buchstaben der Heiligen Schrift, so berufen sich die Pseudoreformer darauf, daß sie nicht gegen den Buchstaben des katholischen Katechismus verstoßen. Das hilft ihnen nichts; sie haben seinem Geist nach zu leben. Er ist Pharus für die Welt und Pforte für den Himmel!

Reformvorschläge, die jeder Freimaurer unterschreiben kann, sind weder für Katholiken noch für gläubige Protestanten akzeptabel. Das ist ein für allemal festzuhalten als Schibboleth. Zwischen Kirche und Loge gibt es seine „Versöhnung“. Dergleichen zu versuchen, ist eine Albernheit. Darin wird mir jeder denkfähige Freimaurer zustimmen. Eine klare Scheidung der Geister tut hier not. Wer die Vernunft als höchste Instanz im Geistesleben ansieht, denkt nicht mehr katholisch und nicht mehr christlich. Solche Reformer benebeln die Köpfe unter dem Vorwand, sie zu klären. Ihre Hauptstärke ist die Phrase. Sie sind Wölfe in Schafskleidern. Mögen sie endlich aufhören, sich und andern weis zu machen, sie seien katholische oder christliche Reformatoren.
Es ist nichts damit. Sie sollen ruhig der „Göttin der Vernunft“ dienen; wir neiden ihnen das nicht; aber mittun können wir da nicht. Wir sind Glaubenskatholiken, nicht Vernunftkatholiken. Gegenüber dem Glauben ist die Vernunft nicht mehr wert als irgend ein körperliches Organ gegenüber der Vernunft… „Wer nicht durch die Türe in den Schafstall eingeht, sondern anderswo hinein steigt, ist ein Dieb und ein Mörder“ (Jo 10, 1). Dieser Spruch Jesu erledigt alle falschen Reformversuche. Unter Katholizismus im engeren Sinne verstehen wir alles Göttliche an ihm. In diesem Sinne sagen wir: am Katholizismus ist nichts zu reformieren, am Katholikentum ist viel zu reformieren. Von dieser Distinktion hat jede echte Reform auszugehen. Wer sie nicht innehält, wird damit anfangen, daß er stolpert, und damit enden, daß er fällt.

Es musste dabei in einem Ton gesprochen werden, den auch das Volk versteht. Denn das Volk galt es in erster Linie zu warnen. Salonkatholizismus treiben wir nicht; auch Jesus hat kein Salonchristentum gepredigt. Eine Reform des Katholizismus, wenn sie echt sein soll, hat sich in genau entgegen gesetzter Richtung zu vollziehen, als wie sie durch die bekannten heutigen Reformer angebahnt werden will. Das lehrt die ganze bisherige Geschichte des Katholizismus; das lehrt der gesunde Menschenverstand; das sagt uns Kopf und Herz gleichmäßig. Das vergessen Sie also nicht. Halten Sie sich immer die einfache Wahrheit gegenwärtig: daß ein Katholik vor allem katholisch sein und bleiben muss. Um dies zu sehen und zu sagen, braucht man nicht ultrakonservativ zu sein; mit diesem Wort wird gegnerischerseits ohnedies Missbrauch getrieben; da das Wort ultramontan nicht mehr zieht, hat man dieses neue Wort „ultrakonservativ“ in Kurs gebracht; im Grunde soll das eine und das andere Wort diejenigen Katholiken bezeichnen, die katholisch bleiben wollen.

Der Höhepunkt alles Charakterlebens ist das Christentum; der Höhepunkt des Christentums ist das Leben der Heiligen, und das Leben der Heiligen findet seinen siegreichen Abschluss in der Dornenkrone des Märtyrers. Charakter, Sittlichkeit, Heiligkeit, Aufopferung – das sind die rechten katholischen Eigenschaften. Napoleon I. hat gesagt: „Keine Gesellschaft kann ohne Moral bestehen; es kann aber keine Moral sein, wo keine Religion ist. Eine Gesellschaft ohne Religion gleicht einem Schiff ohne Kompass.“ Eben dieser Napoleon erwiderte, als jemand ihm vorschlug, „eine neue Religion zu gründen“, prompt: „Da muss man über Golgatha gehen, und das will ich nicht.“
Auch eine katholische Reform ist nur die rechte, wenn sie über den Kalvarienberg führt – sachlich und persönlich.

Ich will schließen. Hier gibt es nur einen richtigen Schluß: wir legen alle unsere Gedanken, Besorgnisse, Mahnungen und Vorschläge in die durchbohrten Hände und in das durchstochene Herz dessen, welcher Ausgangspunkt, Mittelpunkt, Endpunkt jeder wahren Reform sein muss, des Gottmenschen Jesus Christus. Wir bitten ihn, daß er uns den Geist der wahren Reform sende, seinen Geist, den Heiligen Geist, den Gottesgeist. Emitte Spiritum Tuum et creabuntur et renovabis faciem terrae.

Rottenburg, am Tage der hl. Katharina von Alexandrien 1902.

Quelle: Paul Wilhelm v. Keppler, Bischof, Wahre und falsche Reform, 1903, S. 34-59