Das Königliche Gebot
Gedanken der Liebe „Ziehet an als Auserwählte Gottes ein Herz voll Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut, Geduld!“ (Kol. 3, 12)
Es ist eine der überraschendsten und zugleich treffendsten Bemerkungen in den geistvollen, an Menschenkenntnis reichen Büchern P. W. Fabers, wenn er einmal sagt: „Wohlwollende Gedanken sind seltener als wohlwollende Worte und Taten“. Es möchte nach allem, was man beobachten kann, fast scheinen, daß es schwerer ist, Gedanken der Liebe zu hegen als in Taten und Worten der Liebe sich hervorzutun. Aber Gott gibt sich mit Worten und Werken der Liebe nicht zufrieden und mahnt uns: „Ziehet an als Auserwählte Gottes ein Herz voll Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut, Geduld!“ Ohne wohlwollende Gedanken gibt es überhaupt keine Liebe. Der liebevolle Gedanke ist die Grundform der Liebe. Die Liebe ist zunächst nichts Äußerliches und Sichtbares, kein Tun der Hände, kein Reden der Zunge, sondern etwas rein Seelisches, Geistiges – ein Gedanke.
Wie man immer die Liebe auch erklären mag, als Freude und Wohlgefallen, als Wohlwollen, als Verlangen, immer ist, was man als Liebe bezeichnet, im Grunde ein Gedanke im weiteren Sinn, ein seelisches Erlebnis. Dieser Gedanke nimmt dann wohl Gestalt an in Liebeswerken und Liebesworten, aber er bleibt die Seele dieser Worte und Werke und verleiht ihnen Frische und Schönheit, Leben und Wert. Er ist das eigentlich Kostbare selbst an dem größten Werke der Liebe; er ist, auch in den Augen Gottes, das eigentlich Schöne und Heilige an dem Scherflein der Witwe, an den Nachtwachen der Krankenschwester, an der Heldentat eines Lebensretters. Sobald der liebevolle Gedanke nicht mehr darin lebt, ist jedes Werk und Wort der Liebe etwas Totes und der Auflösung Verfallenes. Und jeder Mensch, der nicht liebevolle, wohlwollende Gedanken in sich trägt und hegt, ist, er mag was immer reden oder tun, er ist liebeleer und darum wie der Apostel Johannes bezeugt, selber „im Tode“.
Wir brauchen übrigens nicht zu befürchten, daß wir, indes wir uns um ein liebevolles Denken, um „ein Herz voll Güte“ bemühen, darüber irgendwelche Taten versäumen und verträumen. Wo ein Herz voll Güte, da ist immer auch ein liebevoller Mund und eine liebende Hand. Wären wir nur reicher an solchen Gedanken, wir wären dann von selber reicher an guten Taten; wir wären dann nicht so unachtsam und so kraftlos, so oft eine der vielen Gelegenheiten zu guten Taten und Worten sich bietet. Gedanken, so ruft man uns selbst aus dem nüchternen Amerika zu, Gedanken sind Kräfte.
„Die Kraft“, schreibt Trine in einem seiner viel verbreiteten Büchlein, „die Kraft, die allen Handlungen zugrunde liegt, ist der Gedanke. Jeder Tat geht ein Gedanke voraus. Die Gedanken, die jetzt bei dir vorherrschen werden … Wenn du willst, daß deine Taten von einer bestimmten Art seine, so sieh zu, von welcher Art jetzt deine Gedanken sind!“ Wenn wir anstatt mit gleichgültigen, selbstsüchtigen Gedanken am Morgen mit einem Gedanken der Liebe in den Tag hinein gingen, dann würden wir wohl den Bettler nicht übersehen, der am Wege auf ein paar Pfennige hofft, würden den Dienstboten nicht übergehen, der durch eine gute Leistung ein Wort der Anerkennung verdient hat, würden nicht darauf vergessen, hier auf eine Empfindlichkeit, dort auf den Herzenswunsch eines Menschen achtzuhaben; wenn wir statt unfreundlicher, verdrossener Gedanken freundliche, liebevolle im Herzen trügen, dann wären wir nicht so schwach zur Selbstüberwindung, da jemand gerade eine Bitte an uns stellt oder ein uns nicht sympathischer Mensch ein freundlich Wort uns erwartet, Gedanken sind Kräfte, sie sind die großen Kraftquellen und Kraftzentren aller Zeiten.
Wie die unsichtbaren elektrischen Kräfte in weithin sichtbare Lichtströme und gewaltige Arbeitswerke, in die dröhnende Wucht des Hammers und die Eile eines Bahnzuges sich verwandeln, so hat die bloße Kraft liebevoller Gedanken die gewaltigen Werke eines Vinzenz von Paul oder eines Don Bosco in die Welt gerufen. Ja, auch die großen Liebeswerke und Liebesworte der Gottheit selber, ihre Verheißungen und Seligpreisungen und Tröstungen, das eine Wort, mit dem Gott diese Welt erschuf wie jenes, mit dem er eine Seele in seine Herrlichkeit aufnimmt, Gottes Menschwerdung selbst und Gottes Kreuzestod – sie gehen alle zurück auf liebevolle Gedanken, auf ein „Herz voll Güte“.
Liebevolle Gedanken sind eine Notwendigkeit, aber nicht eine harte und düstere, sondern eine süße, freundliche, freuden- und segensreiche. Ein liebevoller Gedanke ist jedes Mal eine Freude für uns selber. Schwermut und Verdrossenheit, Trauer und Weh, es lässt sich oftmals nicht mit Zerstreuungen und Vergnügungen, nicht mit hohen Betrachtungen und Spekulationen lichten, wohl aber meist mit einem einzigen liebevollen Gedanken. Das Glück, es lässt sich nicht gewinnen mit Welt bewegenden Taten oder mit titanenhaften Philosophemen, wohl aber lässt es sich leicht für einen Augenblick erhaschen von einem Gedanken der Liebe. Mag einer auch die größten Taten tun, so Welt umstürzende wie ein Napoleon, so Welt bewegende wie Kolumbus, mag einer auch die tiefsten, gewaltigsten Visionen schauen, tief wie die der größten Denker, schön wie die der größten Künstler, er wird nicht glücklich sein, wenn diese Gedanken nicht zugleich auch liebevolle sind. Und umgekehrt mag einer, ein Kranker etwa, noch so weniges in der Welt zu tun vermögen oder als ein ganz schlichter, einfältiger Mensch noch so wenig Tiefes ausdenken können, wenn nur seine Gedanken freundlich und gütig sind, dann ist er doch ein glücklicher Mensch.
Da ist das Geheimnis, warum mancher wohl andere glücklich macht und selber doch nicht glücklich ist. Uns selber machen wir mit gütigen Gedanken froh und nicht weniger die Menschen um uns. Den Menschen bleibt es nie verborgen, wenn solche Gedanken uns beseelen, mag auch unsere Hand leer und unser Mund stumm sein. Vielleicht sehen sie es unserer Stirn oder unserem Auge an, vielleicht hören sie es am Klang der Stimme, vielleicht auch sind Gedanken Kräfte, die noch auf andere, geheimnisvollere Art sich übertragen; unsere Umgebung ahnt, fühlt, erkennt sie und freut sich ihrer. Liebevolle Gedanken bringen Licht und Freude unter die Menschen. Man braucht kein Reicher zu sein, der Geld unter die Menschen streut, man braucht kein Geistreicher zu sein, der Witze und Worte sprühen lässt, man kann die Menschen ringsum doch glücklich machen, wenn man nur die Seele voll hat von liebevollen Gedanken.
Im übrigen, wenn auch kein Mensch von den in des Herzens Schrein verschlossenen Perlen liebevoller Gedanken Kenntnis und Freude hätte, einer sähe sie doch und freute sich ihrer: der allwissende Gott, der selber ein ewiger Gedanke der Liebe ist. Wo immer in einer Seele ein freundlicher Gedanke lebt, da ist ihm, als spiegle sich in dieser Kreatur still und heilig sein eigenes Wesen, sein eigenes ewiges Sternenlicht. Ein guter, menschenfreundlicher Gedanke ist ein Spiegelbild Gottes in der Menschenseele. Gott sieht es und freut sich daran und segnet die Seele, die denkt und fühlt so recht wie sein Ebenbild. So ist ein liebevoller Gedanke ein silberner Freudenbrunnen, der durch unsere eigene Seele und durch das Herz des Mitmenschen und sogar hinüber in die Ewigkeit, ins Herz Gottes strömt. Und doch – es sind nicht viele Menschen, die wirklich „anziehen ein Herz voll Güte“. Woher mag es kommen?
Vielleicht daher, daß die Pflicht liebevollen Denkens und Fühlens zwar eine lichte, aber doch nicht eben eine leichte Pflicht ist. Aller Anfang ist schwer, auch der Uranfang aller Liebe, der liebevolle Gedanke. Ein liebevoller Gedanke ist meist schwerer als ein scheinbar wohlwollendes, aber in Wirklichkeit liebeleeres Wort oder Werk. Das liebevolle Denken, diese unsichtbare, stille Tätigkeit der Seele, verlangt eine volle Klarheit des Denkens; es ist oft schwer, sich etwa bei Beleidigungen von den Urteilen des natürlichen Menschen im Gemüt nicht verwirren zu lassen und überhaupt im alltäglichen Verkehr die Grundsätze Gottes klar und deutlich im Geist festzuhalten. Auch eine große Kraft des Willens fordert es, die einstürmenden Gedanken des Hasses, der Selbstsucht, des Argwohns und ähnliche zu beherrschen und in freundliche, wohlwollende Gedanken zu verwandeln. Eine feste Zucht des Geistes ist notwendig, um ein Herz voll Güte zu erhalten und zu behalten.
Andererseits – und das muss uns ermutigen – kann man aber doch auch von einer gewissen Leichtigkeit des liebevollen Denkens sprechen. Ein liebevoller Gedanke ist immerhin leichter als ein wirklich liebevolles Werk, das ja den Gedanken der Liebe voraussetzt und außerdem immer noch seine eigenen Schwierigkeiten biete. Um bestimmte Liebeswerke zu verrichten, ist bald mit der Ungunst und dem Unverständnis der Menschen, bald mit Mangel an Mitteln, bald mit der eigenen Menschenfurcht und Verzagtheit zu ringen. Die Welt um uns ist nicht unser Feld, unser Garten, den wir nach belieben umgestalten können – höchstens einen Winkel kann jeder darin erobern und bepflanzen -, wohl aber ist uns ein freies Königreich und ein Garten unsere Seele, und wir können darin nach unserm Belieben anpflanzen die Edelrosen-Stämmchen liebevoller Gedanken. –
Besonders beim Gebet und in der Betrachtung, wo ja die Himmelsgärtnerin Gnade sich uns am liebsten zugesellt, sollen wir bittere Erinnerungen und Verstimmungen und harte Urteile und argwöhnische Gedanken oder grollende, streitende Gedanken aus der Seele ausjäten und statt dessen Edelgedanken der Liebe ins Erdreich der Seele setzen; und auch sonst in stillen Stunden, auf einsamen Gängen sollen wir diese freundlichen Gedanken wohl hegen und pflegen, auf daß sie gedeihen und mit ihrem Duft den ganzen Tag unseres Lebens bis in die Nacht des Todes hinein. Hast du schon einmal einen Menschen im Sarg liegen sehen mit einem so gütigen, freundlich frohen Antlitz, daß man trotz dem Ernst der Sterbekammer in eine bessere, paradiesische Welt sich versetzt glauben mochte? Siehe, es schwebte selbst über dem Toten noch der Duft dessen, was einst in vielen Stunden sein Herz erfüllte, der Duft wohlwollender Gedanken. –
aus: Bonifaz Wöhrmüller OSB, Das königliche Gebot, 1929, S. 20 – S. 25