Apokalypse – Das siebte Siegel
Das siebte Siegel. Kap. 8, Vers 1. Die große Stille im Himmel
Es gehört zu den Vorzügen der Erzählungskunst der Apokalypse, daß in dem ganzen Buch, aber auch innerhalb der verschiedenen Siebener-Gruppen eine Steigerung der Schrecken und Plagen festzustellen ist. Dabei herrscht so reiche Abwechslung, daß trotz der reihenmäßigen Abfolge nie eintönige Schematisierung entsteht. Während bisher die Öffnung eines Siegels eine Handlung oder Botschaft auslöste, ereignet sich beim siebten Siegel zunächst nichts dergleichen. Es tritt vielmehr eine große Stille sein. Hält selbst der Himmel beklommen den Atem an und wartet lautlos auf das, was nun geschehen wird? Oder ist der Augenblick so feierlich, daß nur Schweigen seiner Würde entspricht, jedes Wort aber die Weihe stören würde? Beides! Und überdies steht das Schweigen wohl auch noch im Zusammenhang mit den Gebeten der Christen auf Erden.
Das letzte Siegel ist erbrochen. Gottes Ratschlüsse liegen nun bis zu ihrem seit Anbeginn festgesetzten Zielpunkt offen und harren der Erfüllung. Noch weiß aber einzig das Lamm, was die Buchrolle enthält und was der Ewige auf dem Thron mit der Welt vorhat. Die Spannung ist so gewaltig, daß sogar in den himmlischen Lobgesängen eine Pause eingelegt wird, als fürchtete der Hofstaat Gottes, durch seine Jubelchöre der Bekanntgabe und dem Vollzug der in der Buchrolle aufgezeichneten Ratschlüsse hinderlich zu sein. Nun hängt alles vom Willen des Allherrschers ab. Kein Geschöpf vermag dazwischen zu reden. Ähnliches erlebte der Prophet Zacharias im dritten Gesicht (2, 17). Da steht Jahwe im Begriff, den Himmel zu verlassen und die lang ersehnte Heilszeit einzuleiten. Alles harrt schweigend auf das, was nun geschehen wird, und es ergeht der Befehl: „Alles Fleisch sei stille vor Jahwe; denn schon macht er sich auf aus seiner heiligen Wohnung.“ Aber Gott zögert und läßt alle in Schweigen warten „Wohl eine halbe Stunde lang“. Er hat Zeit. Nur Schwache und Unsichere überstürzen sich in ihren Entscheidungen; auch der Teufel, da er weiß, daß er nur kurze Zeit hat (12, 12). In der ungeheuren Spannung aller himmlischen Geister bedeutet diese halbe Stunde des Schweigens eine schier endlose Zeit. Es ist, als wolle Gott das All einmal gründlich zu sich selber kommen und Einkehr in die innerste Seelentiefe halten lassen. Nichts zwingt ja so zur Ehrfurcht vor dem Absoluten und zur Selbsterkenntnis wie völlige Stille. Darum pflegen die Menschen bei ganz außerordentlichen Ereignissen oder zum Ausdruck tiefster Ehrerbietung ein allgemeines Schweigen zu veranstalten, wenn auch nur für eine oder drei Minuten. …
Die Stille im Himmel hat uns noch etwas anderes zu lehren: Wenn der Himmel schweigt, so besagt das, daß auch Gott schweigt, und zwar nicht nur er selbst; denn er pflegt während der apokalyptischen Visionen auch sonst sein majestätisches Schweigen selten zu brechen. Jetzt aber schweigen vorübergehend auch seine Boten, die den Menschen den göttlichen Willen kundtun. Es tritt also eine Zeit ein, die der in Sam. 3, 1 erwähnten ähnlich ist (vgl. die Erklärung in Band III 1, S. 28f). Den Getreuen auf Erden bleibt dann nur mehr die Waffe der Geduld und des Gebetes (Offb. 8, 3). Die Feinde aber toben währenddessen um so mehr. Gewöhnlich wird ja das Schweigen des Himmels von den Himmel stürmenden Titanen mißdeutet. Sie fühlen sich in dem Wahn bestärkt, Gott existiere gar nicht mehr. Und wenn er noch existiere, kümmere ihn das Geschehen auf Erden nicht. Je lauter und unbändiger sich aber eine Zeit gebärdet, um so mehr wird ihre innere Schwäche kund. Nur in der Stille erneuert und sammelt sich die Kraft. Für den, der sich noch so viel Innerlichkeit bewahrt hat, daß er sich Gedanken über die mehr und mehr versiegenden Energiequellen macht, kann das Schweigen Gottes sogar zu einer ernsten Glaubensprobe werden. So hat Klopstock nach vorüber gehender Begeisterung für die Französische Revolution erkannt, daß aus all dem wüsten Lärm und aus der Unfähigkeit des Hinhorchens auf die warnende Gottesstimme nur völlige Verwilderung entstehen konnte. Hatte Gott wirklich schweigend die Leitung der Welt seinen Feinden überlassen, damit die Menschheit auf dem Weg durch das Chaos zur Einkehr und Umkehr gebracht würde? Erschüttert fragt Klopstock im Anblick der furchtbaren Folgen der Revolution: „Schweigt jetzt, nicht leitend, Gott? Und kannst du – Furchtbares Schweigen, nur du, uns bessern?“
Die halbstündige Stille im Himmel steht also im engsten Zusammenhang mit dem Gesamtgeschehen. Zudem beschränkt sich die Auswirkung der siebten Siegelöffnung keineswegs auf diese Stille, sie umfaßt vielmehr die ganze folgende Visionsgruppe von den sieben Posaunen (8, 2 bis 11,19). In ihr entfaltet sie sich wie die Knospe zu einer siebenblättrigen Blüte. Nachdem vorhin der Älteste dem Seher eine vorläufige Auskunft über das ewige Glück der Geretteten gegeben hat (7, 14-17), wird jetzt die Schilderung der dem Ende vorauf gehenden Plagen und Kämpfe fortgesetzt. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 125 – S. 127
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